Grußwort von Ricardo Carmona
Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem Wald. An einem Ort voller Kreaturen, einer Symphonie der Klänge und nicht enden wollende Pfade. Hier hängt alles miteinander zusammen wie in einem großen Organismus – vielfältigte Lebewesen und mannigfaltige Welten. Denken Sie sich das Festival als einen solchen Wald. Abseits der ausgetretenen Wege kann man auf Spurensuche gehen. Vielleicht halten Sie Ausschau nach vertrauten Künstler*innen oder Sie lassen sich einfach treiben, wandern umher, verirren sich und treffen dabei auf Ihnen noch unbekannte Künstler*innen und Arbeiten.
Waldungen halten ihr ökologisches Gleichgewicht aufrecht, indem sie zwischen Organismen, die sie bevölkern, Verbindungen herstellen. Keiner der Bestandteile kann ohne die anderen bestehen und so ist ihre Existenz untrennbar mit ihrer Umgebung verwoben. Die Plakatkampagne der diesjährigen Festivalausgabe illustriert diese Form des Zusammenlebens und gegenseitigen Bedingens: ein Baumpilz mit Schmetterlingsflügeln, ein Fluss aus Quarz, eine Fischflosse als zartes Mohnblütenblatt, eine aus dem Waldboden sprießende Seeanemone. Unterschiedliche Wesen, die zusammenleben und sich gegenseitig bedingen.
Die Gegenwart ist ein großes, mehrdimensionales Netz aus gegenseitigen Abhängigkeiten. Dies schlägt sich auch im Programm von Tanz im August 2023 nieder. Eine Polyphonie der Stimmen, Arbeiten und künstlerischen Pfade. Ein Wald aus Welten.
Ökologie befasst sich mit den Wechselbeziehungen zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt. Aber auch die Fantasie spielt dabei eine Rolle. Entlang eines Spaziergangs im Park teilen die 22 Künstler*innen des Projekts “Tanz & Ökologie vernetzen” ihre Visionen mit dem Publikum. Weitere Teile des Programms bewegen sich in eine ähnliche Richtung: Ginevra Panzetti und Enrico Ticconi setzen sich mit Inseln auseinander, Agata Siniarska lädt uns zum Nachdenken über die Auswirkungen von Krieg auf die Natur ein und Chiara Bersani nimmt uns mit ins Unterholz und zur Entstehung einer neuen Sprache.
Wie eine Fülle an Waldbewohner*innen tummeln sich die unterschiedlichsten Tanzformen im Programm von Tanz im August: Arbeiten, die mit allzu starren Vorstellungen von Tanz aufräumen, und Künstler*innen, deren Praxis von verschiedenen Genres kreuzbestäubt wird. Marco da Silva Ferreiara vereint Street Dance und Folkloretänze, Nadia Beugré verbindet Voguing-Elemente mit Coupé Décalé und Ballet national de Marseille / (LA)HORDE bringen soziale Medien und Videogames als Choreografie auf die Bühne. Serge Aimé Coulibaly kombiniert traditionelle europäische und westafrikanische Formen und Rhythmen mit zeitgenössischem Bewegungsvokabular in einer explosiven Mischung aus Energie und Trance. Im Rahmen des Battle-Projekts Outbox Movement sind Fusionen aus zahlreichen Stilen zu sehen, wie auch in Trajal Harrells Festivalbeitrag, der Tanz jenseits von Zeiten und Gender zelebriert. Auch Marlene Monteiro Freitas eklektischer Ausdruck mischt Marsch, Ritual und Sport, Hoch- und Popkultur.
Der Wald ist ein Ort der Geschichten und viele Künstler*innen der diesjährigen Ausgabe glänzen in der Kunst des Geschichtenerzählens. Und wie könnte man lebendigere Geschichten erzählen als mit dem Körper und mit Bewegungen? Manche, wie Dorothée Munyaneza, widmen sich Erzählungen, die auch nach Jahrhunderten noch relevant sind. Ihre neuen Arbeit beschwört die karibische Figur Tituba herauf, die im 17. Jahrhundert als Hexe verfolgt wurde. Taoufiq Izeddiou bezieht sich auf Sufi-Rituale aus derselben Zeit, deren Trance-Zustände er erkundet. Kat Válastur betrachtet die griechische Tragödie “Iphigenie in Aulis” aus feministischer Perspektive und Radouan Mriziga setzt sich mit den Erzählungen und Klängen der nordafrikanischen Amazigh-Kultur auseinander. Andere Künstler*innen wiederum bergen Geschichten, die der Körper archiviert hat. Anhand der alltäglichen Bewegung des Gehens denken Rosas über Individualismus und Kollektivität nach. Auf den Spuren der Empathie in Gesten und Sounds taucht Yasmeen Godder tief in den Körper ein, und Cherish Menzo hinterfragt anhand von Rap und Hip-Hop-Paradigmen restriktive Kategorisierungen des Körpers.
Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem Wald. Sie erleben weitaus mehr, als Sie sehen, denn was Sie hören, riechen, schmecken und spüren, ist ebenso wichtig. Lassen Sie uns das diesjährige Festival genau so genießen: als multisensorische Sinneserfahrung. Öffnen wir uns für unterschiedlichste Perspektiven auf die Welt, wie sie ist und wie sie sein könnte.
Ricardo Carmona
Künstlerischer Leiter & das Team von Tanz im August
Mai 2023