Programmeinführung von Ricardo Carmona
Der Boden unter unseren Füßen ist ständig in Bewegung. Tektonische Platten driften langsam – im selben Tempo, wie Fingernägel wachsen – und sorgen für Verschiebungen und Verwerfungen der Kontinente. Diese stille, kaum wahrnehmbare Bewegung verändert die Erdoberfläche, mit einer Kraft, die immer wieder seismische Beben auslöst.
In diesem Jahr entfaltet sich das Festival wie eine tektonische Landschaft – eine Choreografie des sich verlagernden Bodens, bei der jede Bewegung mit einer größeren Transformation zusammenhängt. So wie die Erdkruste sich biegt und atmet, übt auch Kunst Druck aus auf den Rand unseres Wissenshorizonts, sie öffnet Risse und schafft Raum für Neues. Hier hören wir mit den Fußsohlen, spüren mit unserem Atem, denken mit unserer Haut. Dies ist ein Ort, der nicht allein von dem, was sichtbar ist, geformt wird, sondern gleichermaßen von dem, was gespürt, vorgestellt und erinnert wird – eine Choreografie der Beziehungen und geteilten Dringlichkeiten. An der Reibung dieser Begegnungen – zwischen Künstler*innen, Vorstellungen und Zuschauer*innen – entzündet sich ein Feuer. Doch keines, das verzehrt, eher eines, das Wärme schafft, Klarheit und Mut. Ein Feuer, das uns dazu einlädt, einander während der Verschiebungen Halt zu geben.
Viele der Arbeiten sind selbst Feuerstellen, die Gemeinschaften um sich versammeln und schaffen. Némo Flouret eröffnet das Festival mit einem kollektiven Spektakel aus Feuerwerk, Tanz und Musik. Gleichzeitig lädt nora chipaumire in eine fiktive Privatbar ein, wo Revolutionen ihren Anfang nehmen könnten. Lia Rodrigues fragt, wie Grenzen Menschen formen und einschränken. J Neve Harrington wiederum gestaltet eine kaleidoskopische Choreografie aus Körpern, und Clara Furey erforscht Erotik als gemeinschaftliche Kraft, frei von Normen. Und Outbox Movement bringt verschiedene Tanzstile unter freiem Himmel zusammen, dynamisch verbunden durch Bewegung.
Auch Tanztraditionen befinden sich, ähnlich wie die tektonischen Platten, in ständigem Wandel und gestalten die Landschaften kulturellen Ausdrucks neu. Inka Romaní vermischt Volkstänze aus Valencia mit zeitgenössischen Formen wie Breaking und House, während Nguyễn + Transitory musikalische und tänzerische Inspiration aus thailändischen Traditionen schöpfen, vererbte Formen queer interpretieren und Dialoge zwischen dem Althergebrachten und Zeitgenössischen eröffnen. Auf andere Weise untersucht Adam Linder mit Ethan Braun und dem Solistenensemble Kaleidoskop den Tanz und seine strukturellen Verbindungen zur Musik. Außerdem erforscht Radouan Mriziga den Resonanzraum der Wüste aus Sicht der Amazigh-Kultur Nordafrikas. Ligia Lewis etabliert eine neue, utopische Vision von Zugehörigkeit jenseits nationaler Identitäten.
Der Körper ähnelt einer Landschaft, die durch allmähliche Akkumulation Gestalt annimmt, und als Ort des Erzählens speichert er oft viele Schichten – persönliche und kulturelle Geschichten. Marlene Monteiro Freitas zeigt 1001 Erzählungen in einem fabelartigen Strom über Liebe, Krieg und Freiheit. Daniel Mariblanca nutzt Interviews mit trans Personen und verkörpert ihre Vielfalt und ihr breites Erfahrungsspektrum. Oona Doherty wendet sich ihrer Familiengeschichte aus Sicht eines Jungen aus der Arbeiterklasse zu, während Lovísa Ósk Gunnarsdóttir das Altern und das Schweigen über die Menopause thematisiert.
Künstler*innen reagieren auf die dringenden Fragen ihrer Zeit mit Überlegungen zu den sich verschiebenden Landschaften von Gesellschaft, Identität und Vorstellungskraft. Moritz Ostruschnjak untersucht, wie die zunehmende Digitalisierung aller Lebensbereiche unser Erleben verändert und was in einer digitalisierten Welt vom Körper übrig bleibt. Jeremy Nedd erkundet die Politiken marginalisierter Bewegung und fragt: Ist es möglich, eine Tanzbewegung zu besitzen? Xan Dye behandelt das Paradox von Identität und Wandel. Und angesichts um sich greifender Zerstörung betrachtet Yara Boustany das kollektive Vorstellungsvermögen als Werkzeug des Widerstands. Kim Sungyong führt uns in die Landschaft des Dschungels, wo Metapher und Erinnerung eins werden und zur Kontemplation unserer Existenz aufrufen.
Kunst kann die Welt gestalten, so wie es tektonische Platten tun – aber nur, wenn ihr der Raum gegeben wird. Zensur, Unterdrückung und Angst wollen die Oberfläche verhärten und die Risse versiegeln. Angesichts der Zunahme autoritärer Herrschaftsformen und des Neofaschismus auf der ganzen Welt wird die Wahrung der Ausdrucksfreiheit umso dringender. Halten wir uns an die Risse, halten wir den Dialog offen, schützen wir das Recht auf Bruchstellen, auf Widerspruch – das Recht darauf, viele zu sein. Die Arbeiten im diesjährigen Festival stehen für offene Verwerfungslinien – sie führen zu Beben, bringen verborgene Schichten an die Oberfläche und gestalten eine zukünftige Welt.
Der Boden ist in Bewegung, und wir bewegen uns mit ihm.
Ricardo Carmona
Künstlerischer Leiter & Team Tanz im August
April 2025