Neuerfindung der Weiblichkeit

Lisbeth Gruwez im Gespräch über ihr neues Stück, "The Sea Within", für eine Gruppe von zehn Tänzerinnen. 

Interview: Thomas Hahn

"The Sea Within" ist ein Tanzstück für eine Gruppe von Frauen, die gemeinsam eine Reise zur gegenseitigen Heilung erleben, durch Szenen der Harmonie, der Aggression, des Schwebens, des Rettens und des Feierns. Es ist Lisbeth Gruwez‘ Durchbruch in eine neue Dimension von Choreografie, in der jede durch die Kraft der Gruppe und die Präsenz der Einzelnen ihre eigenen Grenzen überschreitet. 

Thomas Hahn: Für "The Sea Within" haben Sie eine Gruppe von Frauen versammelt, die als weiblich geltende Eigenschaften wie Verbundenheit und Sensibilität besitzen, aber auch Streitlust und Wildheit. Wollten Sie damit das Bild der Frau in der Gesellschaft kommentieren oder verändern?

Lisbeth Gruwez: Ich möchte mich mit meiner Arbeit nicht feministisch positionieren, daher ist "The Sea Within" kein spezifisch feministisches Statement. Durch unsere Auseinandersetzung mit Rhythmen und Landschaften berührten wir tiefere Fragen. Heutzutage müssen sich Frauen selbst neu erfinden und ihre wahre Natur neu entdecken. Lasst uns die Kraft, die wir als Frauen haben, neu erfinden. Ich wollte, dass sie entdecken, dass sie beides in sich tragen, sowohl animus wie auch anima, damit beides in einander verschmelzt und zur Freiheit wird. Es geht darum in Energien zu denken, nicht in Kategorien. Dadurch entstehen in unseren selbstgemachten Landschaften all diese individuellen Identitäten. Wie im realen Leben auch, in dem man viele neue Identitäten sieht, die vor zehn Jahren noch versteckt waren.

TH: Man spürt eine intensive Verbindung zwischen den Tänzerinnen, obwohl man sie als sehr starke Individuen entdeckt. Wie haben Sie das geschafft?

LG: Wir haben viele Übungen zusammen gemacht, unter anderem Meditation. Und wir haben mit den fünf Rhythmen der Natur gearbeitet: Stakkato, Fluss, Stille, das Drehen und die lyrische Stimmung. Solche Übungen offenbaren sehr viel über die Persönlichkeit eines Menschen. Es gibt immer eine Qualität, in der eine Tänzerin nicht so gut ist, und andere, in denen sie sehr gut ist oder es werden kann. Als wir das gemeinsam erforscht haben, kamen sich die Tänzerinnen sehr nah und entwickelten großes Vertrauen zu einander. Die große Herausforderung war für uns, durch einen poetischen Filter aus diesem therapeutischen Ansatz eine tänzerische Sprache zu entwickeln. Dafür haben wir die Shibashi-Technik des Tai-Chi erlernt, eine fantastische Technik, um sich wie der Wind oder das Wasser zu bewegen. Tai-Chi ist etwas sehr Spirituelles, Einfaches, und bringt einen in Einklang mit der Umwelt und sich selbst: the sea within!

TH: Wie haben Sie die Tänzerinnen ausgewählt? 

LG: Das ist immer ein langwieriger Prozess bei mir, weil ich der Überzeugung bin, dass die Hälfte der Arbeit getan ist, wenn man eine gute Gruppe zusammenstellt. Fünfhundert Tänzerinnen haben sich beworben und 124 sind in die Vorauswahl gekommen. Ich wollte Tänzerinnen mit einem starken Bezug zur Stille, mit starker Präsenz und zugleich mit Zerbrechlichkeit. Eine gute Übung ist es die Tänzerinnen bis zur Erschöpfung rennen zu lassen, so dass ihre Gesichter anfangen zu hängen. Ich suche immer nach Tänzerinnen, die daurch noch schöner werden, deren Gesichter dann richtig strahlen. 

Es ist wie in Trance zu tanzen. Man teilt eine repetitive Bewegung als Individuum und die führt einen zu etwas Essenziellem.

TH: Manche finde ich herausragend, zum Beispiel Cherish Menzo, die das Stück mit einem Solo eröffnet, in dem sie Zeit und Raum komplett verzerrt. Oder Chen Wei-Lee, die mit dem Gedanken des Meeres, der Welle und Wassers eins wird, oder Charlotte Petersen, die die Präsenz einer Ballerina hat, aber trotzdem ganz ungewöhnlich ist.

LG: Cherish Menzo hat mit Nicole Beutler und Eszter Salamon gearbeitet. Sie ist die Tochter eines berühmten belgischen Fußball-Torwarts, der jetzt Trainer einer südafrikanischen Mannschaft ist. Chen Wei-Lee war eine bemerkenswerte Tänzerin der Batsheva Dance Company. Sie hat auch mit Jérôme Bel gearbeitet und leitet ihre eigene Kompanie. Charlotte Petersen ist eine deutsche Tänzerin, die in Amsterdam und am Staatstheater Mainz ausgebildet wurde.

TH: Haben Sie viel diskutiert? Welche Themen haben Sie besprochen?

LG: Ich mag es nicht, viel zu diskutieren. Das macht man im Theater. Wir haben uns für Erfahrungen entschieden und haben diese am Ende des Tages mit der Gruppe geteilt. Wir tragen unterschiedliche Archetypen in uns, daher geht es darum, das Gleichgewicht zwischen ihnen zu finden, und wie wir uns mit jedem Archetyp und seiner Natur verbunden fühlen können. Wir haben über Stamm-bezogene Menschen gesprochen, die frei sein wollen, aber ein großes Bedürfnis haben, Teil einer Gruppe und eines großen Ganzen zu sein. Es ist wie in Trance zu tanzen. Man teilt eine repetitive Bewegung als Individuum und die führt einen zu etwas Essenziellem, sie verändert die Umgebung und den eigenen Platz in ihr.

Übersetzt aus dem Englischen von Anna-Katharina Johannsen. 

Voetvolk / Lisbeth Gruwez

The Sea Within

17.8., 21:00 | 18.8., 19:00 | 19.8., 21:00 | HAU2