Komplexe Erfahrungen / Klare Struktur

Ideen, Vision und Techniken von Noé Soulier 

Text: Pieter T’Jonck

In seinen Arbeiten erforscht der französische Choreograf Noé Soulier Ansätze, die eine vollkommene Erfahrung des Körpers in Bewegung ermöglichen, nicht nur als Tänzer*in, sondern auch für das Publikum. Soulier entwickelte diese Recherche in überraschend raffinierten Kompositionen für kleine und große Tanzkompanien. Als Philosophie-Absolvent der Sorbonne formuliert er seine Ideen mit großer Genauigkeit in Texten, die sich den gängigen Gemeinplätzen über Tanz entziehen. Vor der Uraufführung von "The Waves" bespricht der Tanzkritiker Pieter T’Jonck Noé Souliers frühere Arbeiten und analysiert die grundlegenden Ideen und Techniken, die auch in seiner aktuellen Arbeit eine Rolle spielen.

In "Corps de Ballet" (2014), einer Choreografie für 16 Tänzer*innen, dekonstruiert Soulier das klassische Ballett auf fast didaktische Art und Weise. Im ersten Teil führen die Tänzer*innen all die bekannten Ballettschritte in alphabetischer Reihenfolge aus, ausgehend von der ‘Arabeske’. Es stellt sich heraus, dass es viel mehr Varianten gibt, als man hätte ursprünglich annehmen können, manche von ihnen sind sehr persönlich. Jede Variation verkörpert einen Idealtyp, den man selbst aber nie zu sehen bekommt. Diese Idee wird in dem Stück immer wieder unter Beweis gestellt. Im zweiten Teil von "Corps de Ballet" wird das Publikum noch weiter in die Irre geführt. Die Tänzer*innen führen ein paar Schritte aus, drehen sich oder heben die Arme in Abläufen, die keine klare Figur erkennen lassen. Vielmehr unterbrechen die Tänzer*innen ihre Bewegung jedes Mal, wenn man zu erkennen glaubt, was gleich folgt, und gehen plötzlich in eine ganz andere Richtung oder bewegen ein anderes Körperteil. Der Tanzfluss wird durch die oft in schneller Reihenfolge ausgeführten Bewegungen konstant unterbrochen. Es ist offensichtlich eine Herausforderung für die Tänzer*innen, und es macht die Performance für das Publikum aufregend, aber auch anspruchsvoll: wie vertraut das Bild auch scheinen mag, es ist schwierig, zu greifen, was man wirklich sieht. Dafür gibt es aber eine einfache Erklärung: Jeder Ballettfigur geht ein Übergang oder ein Aufbau voraus. Diese Übergänge sind jedoch weniger kodifiziert und ziehen deutlich weniger Aufmerksamkeit auf sich: Unser Blick springt oft von einer ‘lesbaren’ Figur zur nächsten und vergisst die Übergänge. Soulier hat einen Tanz entwickelt, der nur aus Übergängen besteht, er lässt die die Pirouetten und Arabesken aus.

Soulier fordert die Mechanik und die Systeme des Balletts heraus, indem er die ‘offensichtlichen’ Teile rausschneidet und nur die periphere Struktur beibehält. Das regt das Publikum und die Tänzer*innen dazu an, aktiv nachzudenken. Das macht seine Arbeit so spannend: immer wieder lässt der Choreograf Informationen aus, um die Fantasie anzuregen.

In den Fußstapfen von William Forsythe

In seinem Solo "Mouvement sur mouvement" (2013) imitiert Soulier bis ins letzte Detail alle Bewegungen von William Forsythe in dem Video "Lectures from Improvisation Technologies" (1994 und 1999). Soulier war fasziniert von Forsythes Art und Weise, seine Ideen mithilfe seiner Hände und Füße zu vermitteln. Er zeigt nicht nur die Bewegung, über die er spricht, er fügt auch zahlreiche ‘zusätzliche’ Gesten hinzu, um sein Argument zu verstärken. Es sind ‘Bewegungen über Bewegung’, damit entsteht ein Bezug zu den Übergangsbewegungen des zweiten Teils von "Corps de Ballet". Auch hier werden sie zu einer Choreografie in sich selbst. In seinem eigenen Solo verbindet Soulier Forsythes Text mit seinem eigenen, einer Sammlung an scheinbar unzusammenhängenden, aber pointierten Reflexionen darüber, was Tanz bedeutet und was er mit uns macht.

Diese Bewegungen über die Bewegung entstehen spontan, ungeplant. In seinem Text erwähnt Soulier, dass dies auf viele Tanzformen zutrifft. Ein*e klassisch ausgebildete*r Tänzer*in führt zum Beispiel eine Arabeske aus: sie oder er könnte es bestimmt gar nicht genau definieren, denn Tänzer*innen lernen das Konzept induktiv, indem sie die Lehrer*innen imitieren und die Figur unter ihrer Anleitung verfeinern. Laut Soulier charakterisiert diese Spontaneität auch das Denken. Wir lernen, indem wir Dinge tun, sei es das Tanzen oder das Denken. Wir lernen so etwas nicht alleine, sondern immer unter Anleitung oder im Dialog mit anderen. Das ‘Tun’, ‘Teilen’ oder ‘Zeigen’ sind untrennbar voneinander.

Das ist eine der Schlussfolgerungen des Stücks, aber vorher wird eine virtuose Performance vorgeführt. Es ist schwer genug Forsythe bis ins kleinste Detail zu imitieren, geschweige denn die Bewegungspartitur mit einem Text, der nicht zu den Bewegungen passt, zu unterlegen. In dem Originalfilm von Forsythe unterstützen die Worte offensichtlich die Bewegungen und umgekehrt: zusammen verschmelzen sie zu einem einzigen Argument. Bei Soulier ist die Verbindung zwischen Bewegung und Wort aufgehoben. Die Logik der Bewegung und die Logik der Worte entwickeln sich separat, man muss ihnen separat folgen.

Durch eine bestimmte Praxis versucht man, in den Augen anderer, eine andere und bessere Version seiner Selbst zu sein.

Daher hört man und beobachtet man mit einem doppelten Fokus. Manchmal widerspricht der Text den Bewegungen. Soulier liegt fast regungslos auf dem Boden und erklärt, dass Trisha Brown ihre Bewegungen nicht geometrisch definiert (wie im Ballett), sondern sie auf mechanischen Kräften beruhen, die auf den Körper einwirken. Wenn er später von den Aufgaben (‘tasks’) spricht, durch die Yvonne Rainer und Simone Forti Choreografie definieren, bilden seine Bewegungen mehr oder weniger diese Funktionsweise ab. Aber in beiden Fällen verändert die Parallelität die Wahrnehmung von Bewegung und Worten.  

Es erfordert von den Tänzer*innen und dem Publikum viel Konzentration, aber Soulier lässt uns das durch seine entspannte Tonfall fast vergessen. Seine Gedanken kommen im Rhythmus von Forsythes Bewegungen an die Oberfläche, um etwas in der Kommunikation mit dem Publikum zu ‘tun’ oder zu ‘verändern’. Tanzen heißt, laut Soulier, an sich selbst arbeiten. Durch eine bestimmte Praxis versucht man, in den Augen anderer, eine andere und bessere Version seiner Selbst zu sein. Zur oder zum Balletttänzer*in wird man, indem man seinen Körper formt. In diesem Sinne ähnelt das Tanzen der Philosophie, wie sie die alten Griechen sahen: Als eine Form der Selbsttechnologie, die durch das Gespräch mit anderen geübt wird. Als Tanzstudierende begegnet man den Lehrer*innen auf Augenhöhe. Als Performer*in begegnet man dem Publikum auf Augenhöhe. Das hat eine Auswirkung auf den Tanz und die Tänzer*innen, aber auch auf die Lehrer*innen oder das Publikum.

Konzentration

 

In "Actions, mouvements, gestes", ein 2016 von Noé Soulier in Kooperation mit dem CN D, Paris veröffentlichtes Buch, führt er seine Beobachtungen in "Mouvement sur mouvement" und "Corps de Ballet" aus. Er entwickelt einen kohärenten theoretischen Ansatz für die Beobachtung und das Verständnis von Tanz. Anders als Konzeptkunst konzentriert sich Tanz als Kunstform nicht auf das Wissen oder einen immateriellen Inhalt, sondern darauf, Erlebnisse zu ermöglichen. Das bedeutet nicht, dass ein konzeptueller Ansatz unmöglich wäre. Indem die Aufmerksamkeit gezielt gelenkt wird, können choreografische Konzepte eine wertvollere Erfahrung von Tanz ermöglichen. Diese Beobachtung trifft auch auf das Publikum zu. Laut Soulier besteht die Arbeit des Choreografen in der Entwicklung von Tanzkonzepten, die die Erfahrung des Publikums bereits berücksichtigen.

Die Performance "Faits et gestes"(2016) ist eine weitere Ausführung der Ideen zu Bewegung, die in seinem Buch angesprochen werden. "Faits et gestes" ist ein unübersetzbares Wortspiel. Es bedeutet in etwa "Das Leben und Werk von" [aber auch "Fakten und Gesten"]. Das Bewegungsmaterial entsteht durch konkrete Handlungen (‘buts pratiques’). Im Ballett werden diese oft benutzt, um der Bewegung eine bestimmte Qualität zu geben. Der Begriff ‘frappé’ bedeutet natürlich nicht, dass die Tänzer*innen etwas schlagen sollen (‘frapper’ bedeutet ‘schlagen’), sondern dass die Bewegungsqualität, die mit ‘schlagen’ verbunden wird, in der Handlung mitklingen sollte. Das Ziel der Handlung ist abwesend, nur deren Intensität bleibt.

"Faits et gestes" verfolgt und erweitert dieses Prinzip. Soulier formuliert es so: "Die Tänzer*innen konzentrieren sich auf die unterschiedlichen Möglichkeiten, wie Gesten Bewegungen andeuten können: sich auf eine Bewegung vorbereiten, abwesende Ziele treffen wollen, Aspekte von anderen Bewegungen andeuten, hervorheben, auswählen oder übertragen. Diese Bewegungen genügen sich nicht selbst, sie spielen auf etwas anderes außerhalb ihrer selbst an. Selbst wenn sie auf etwas Unbekanntes anspielen, bleibt die Tatsache, dass sie auf etwas anderes abzielen, bestehen. Diese verschiedenen Möglichkeiten, durch Bewegung etwas herbeizurufen, werden auf der Bühne offengelegt." 

In dieser Arbeit ist das Bewegungsmaterial klar definiert, nur die Reihenfolge und das Timing der Tänzer*innen können sich ändern. Dadurch entsteht ein hoher Komplexitätsgrad. Nichtsdestotrotz wird es nicht chaotisch, denn alle choreografischen Module werden klar gezeichnet und präzise miteinander kombiniert. In der Kombination aus komplexen Erfahrungen und struktureller Klarheit liegt die Faszination von Noé Souliers Werken.

Übersetzt aus dem Englischen von Anna-Katharina Johannsen. 

Noé Soulier | The Waves

30.8.–1.9., 21:00 | HAU2
Uraufführung