Nele Hertling

Ohne Nele Hertling kein Festival “Tanz im August”, keine 30 Jahre zeitgenössischer Tanzgeschichte, aufgeführt in Berlin an großen und kleinen Häusern. Als sie 1962 in der Akademie der Künste (West) als wissenschaftliche Mitarbeiterin anfing, hatte sie bereits einiges hinter sich: den Nationalsozialismus, das Kriegsinferno, das sie,1934 in Berlin geboren, erst in Bayern und dann in der Nähe von Rostock mit ihrer Mutter überlebte; das Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität (Abschluss 1957); die ideologische Aufrüstung zwischen dem Ost- und den Westteilen Berlins, die vor Intellektuellen und Künstler*innen nicht Halt machte; die Verfolgung und Verhaftung von Freund*innen; der Bau der Mauer 1961. Aufgewachsen in einem aufgeschlossenen Musiker-Haushalt, wandte sie sich ohne Wenn und Aber der Moderne zu – in der Musik, in der Darstellenden Kunst. Sie war am Hanseatenweg 10 an der genau richtigen Adresse.

Die Akademie der Künste (West) war seit ihrer Wieder-Gründung 1954 der Hot Spot für junge Künstler*innen und Intellektuelle. Nele Hertling betreute die Akademiemitglieder und gestaltete Programme und das hieß: herumreisen, neue, innovative Formen entdecken und nach Berlin bringen, dem Publikum die Augen und Ohren öffnen.

In der Akademie der Künste (West) entwickelte sie gemeinsam mit ihrem Kollegen Dirk Scheper die Reihe “PMTT“, “Pantomime – Musik – Tanz – Theater“.  In dieser Reihe sollte fast alles gezeigt werden können. Das ist ein Arbeitsprinzip von Nele Hertling: Künstler*innen (fast) alles möglich zu machen. Dafür brauchte sie Geld und Partner*innen. Sie tat sich mit Ulrich Eckhardt zusammen, der Ende 1972 Intendant der Berliner Festwochen geworden war. Er erinnert sich besonders gerne an das Jahr 1976, als er mit Nele Hertling nach New York reiste und sie Kunst, Theater, Musik, Performance, Video, Film anschauten und für die Ausstellung “New York – Downtown Manhattan: SoHo“ nach Berlin brachten:

O-Ton Ulrich Eckhardt

“Wir können eigentlich von uns behaupten, Nele und ich, das war damals diese amerikanische Avantgarde hierher gebracht haben und das hat hier viel ausgelöst. Das ist uns ja immer sehr wichtig gewesen, dass wir hier nicht immer irgendwelche Feuerwerke abbrennen und Sensation erzeugen, sondern dass das hier auch irgendwo Nachwirkungen hat und das ist ja auch geschehen.” 

In Soho geschah in den 60er, 70er Jahren das, was später in Berlin Kreuzberg auch passierte: Kollektive, Initiativen mieteten leerstehende Fabriketagen und probierten Kunst und Leben unter einem Dach aus. 

1978 war die Tanzfabrik in der Kreuzberger Möckernstrasse das erste Kollektiv, das in einer Fabriketage Tanz und Alltag zusammen (er)leben wollten. Claudia Feest war mit von der Partie und lernte alsbald Nele Hertling kennen:

O-Ton Claudia Feest

“Ja, Nele kam oft in die Tanzfabrik, oft, eigentlich immer in Begleitung von Marion Ziemann, die beiden sah man eigentlich immer zusammen und Nele war sehr informiert und hat sich sehr viel angeguckt. Das glaube ich gehört auch mit dazu, dass sie zu so einer Instanz geworden ist, weil sie sich gut auskannte in der ganzen Szene und eine interessante Position vertreten hat.”

Wie viele Stunden Nele Hertling in Aufführungen saß? Mit Künstlern sprach? Kontakte knüpfte und Geld besorgte? Und auch noch der Politik klarmachte, wie wichtig es ist neue, unbekannte Choreograf*innen, Kompanien und Tänzer*innen nach Berlin zu holen? Sie hat das nie nachgerechnet. Darauf käme sie gar nicht. Die Arbeit mit Künstlern, das war und ist ihr Leben. Ihr Mann, der Architekt Cornelius Hertling, und ihre drei Kinder mussten mit ihrer Leidenschaft leben: 

O-Ton Tania Hertling

“Meine Schwester und ich, wir saßen häufig in der Akademie der Künste hinten in der letzten Reihe in irgendwelchen 12-Ton-Konzerten, haben uns vor Lachen kaum halten können und da hat sie uns einfach immer mitnehmen müssen. Und ich weiß noch genau, wenn die Vorstellungen in der Akademie der Künste zu Ende waren, Cunningham oder Trisha Brown, dann bin ich auf die Bühne gesprungen und habe versucht, das nachzutanzen, da war ich vielleicht 10 oder so in dem Alter, und fand mich, dachte ich bin Merce Cunnigham mindestens und habe da irgendwie auch eine absolute Begeisterung auch an der Bewegung und habe das ja auch nie verloren und bei mir hat sich ja das dann auch beruflich niedergeschlagen als Tanzfotografin.”

Mit der Zeit wusste nicht nur der Intendant der Berliner Festwochen, wie wichtig Nele Hertling als Partnerin und Vertreterin der Akademie der Künste war, auch der West-Berliner Kultursenator Volker Hassemer hatte sie schätzen gelernt. 1986 beauftragte er sie, das Programm für “Berlin – Kulturstadt Europas 1988“ zu gestalten. Sie sagte ja, verließ die Akademie der Künste (mit einem weinenden und einem lachenden Auge) und stürzte sich mit einem kleinen Team in die Arbeit. Dazu gehörte Maria Magdalena Schwagermann, die 1987 zu ihr stieß:

O-Ton Maria Magdalena Schwaegermann

“Und dieses erste Treffen dann mit der Frage, würden Sie mit mir zusammenarbeiten als Assistentin in dem Kulturstadtjahr, Werkstatt Berlin, begann um 3 in der AdK und endete nachts um 2 und da saßen wir dann unterdessen unter ihrem Tisch zwischen mindestens 800 Projektanträgen, die sie mir alle in Kürze erklärt hatte, um mir zu zeigen, welch ein großes Projekt wir da vor ihr lag und möglichweise auch vor mir lag. Und das war dann auch die Nacht als zu guter Letzt gesagt wurde, ja und dann gibt es ja da noch ein großes Projekt mit Robert Wilson, aber ich glaube, das schaffen wir nicht, THE FOREST, wir müssen mal gucken, wie wir das überhaupt noch zustande kriegen und ich habe gesagt, dass kann man doch gar nicht unversucht lassen und ich kriegte noch in dieser Nacht die Zusage, dass ich meine erste offizielle Dienstreise antreten durfte nach Stuttgart um Robert Wilson kennenzulernen. So ging das alles los. Und das ist vielleicht symptomatisch für unsere ganzen 16 Jahre, die wir zusammengearbeitet haben. Das Verhältnis zu Nele Hertling war von Anfang an geprägt von einer großen Neugier meinerseits und einer großen Bewunderung natürlich und auf der anderen Seite von einer unglaublich großen Großzügigkeit und einem Vertrauen in mich. Die wusste ja gar nichts von mir. Ich war ja ein No-Name hier in der Stadt und Nele Hertling hat offensichtlich und das habe ich später ja kennengelernt, eine große Intuition, in der sie auf Leute setzt und ich hatte das Glück, dass sie auf mich gesetzt hat und habe dieses Vertrauen, was sie mir da entgegengebracht hat und diese Großzügigkeit sehr gerne angenommen.”

Nele Hertling initiierte im Rahmen der Kulturstadt Europas die TanzWerkstatt, die zunächst misstrauisch beäugt, dann aber doch angenommen wurde. Dieser ersten Ausgabe folgte ein Jahr später der “Tanz im August“. Ob bereits durchgesetzte Choreograf*innen wie Merce Cunnigham oder eine noch unbekannte Anne Teresa de Keersmaeker, ob die junge Sasha Waltz oder die bereits anerkannte Susanne Linke, ob Robert Wilson, No-Names wie Dominique Bagouet, Jan Fabre, Cesc Gelabert oder Jo Fabian – Nele Hertling schaute immer in viele Richtungen. Nicht nur gen Westeuropa und über den Atlantik, sondern auch gen Osten. Für sie stand außer Frage: Kunst- und Kulturaustausch sind politische Botschafter. Und ihr war an Nachhaltigkeit gelegen als es diesen Begriff noch gar nicht gab:

O-Ton Claudia Feest

“Sie war ja auch eine, sie hat als sie die Intendanz des Hebbel-Theaters innehatte, da konnte sie ja Choreograf*innen über einen längeren Zeitraum fördern durch Einladungen und sie hat das gerne gepflegt. Dass sie Künstler*innen, die sie gut fand, dass sie die auch immer wieder eingeladen hat. Das ein Publikum auch sehen konnte, wie sich Künstler*innen entwickeln und damit hat sie den freischaffenden Künstler*innen auch eine Chance gegeben, immer wieder nach Berlin zu kommen und hier ein Gastspiel zu haben und das war Konzept bei Nele Hertling.”

Nele Hertling im Hebbel-Theater und Ulrike Becker und André Thériault von der TanzWerkstatt entwickelten ein neues Festivalformat, verknüpften Gastspiele mit Workshops. Die Begegnung mit internationalen Choreograf*innen, die länger in der Stadt blieben und unterrichteten, eröffnete der Tanzszene völlig neue Möglichkeiten. Das was heute selbstverständlich ist, herumreisen, Workshops besuchen, war Anfang der 90er Jahre keine Selbstverständlichkeit. Als Nele Hertling 2003 das Hebbel-Theater verließ, 15 Ausgaben Tanz im August hinter ihr lagen, konnte sie an ihren Nachfolger Matthias Lilienthal ein Festival übergeben, das immer noch unterfinanziert war, um das immer wieder gekämpft werden musste, das sich aber ohne Zweifel etabliert hatte – über Berlin und Deutschland hinaus. Mit ihr ging Maria Magdalena Schwaegermann, die von 1989 bis 2003 als stellvertretende Künstlerische Leiterin des Hebbel-Theaters an der Seite von Nele Hertling gearbeitet hatte:

O-Ton Maria Magdalena Schwaegermann

“Sie ist die silberblaue Frau für mich, immer mit so einem sanften, distanzierten Lächeln, wo man sich fragt, darf man da jetzt ran oder nicht und man hat immer diesen Respekt und gleichzeitig ist es eigentlich immer offen. Das ist das Bild: die blauen Kleider, das silberne Haar und dieses leichte Lächeln, was nicht so ganz definiert ist.”

Nele Hertling ist die geblieben, die sie immer war: eine umtriebige Netzwerkerin, eine Menschenfängerin – wie Ulrich Eckhardt sie nannte. Von 2003 bis 2006 leitete sie das Berliner Künstlerprogramm des DAAD; wurde 2006 Vizepräsidentin der Akademie der Künste, blieb bis 2015 und kehrte im vergangenen Jahr als Direktorin der Sektion Darstellende Kunst zurück – 55 Jahre nach ihrer ersten Anstellung im Haus am Hanseatenweg. Hertling hat den zeitgenössischen Tanz in Berlin durchgesetzt und die Tanzszene (nicht nur in Berlin) über Jahre entscheidend geprägt. Ihr Wort galt viel – manchen manchmal zu viel. 2018 wird sie mit dem Deutschen Tanzpreis geehrt – eine längst überfällige Anerkennung für ihr unermüdliches Engagement.