Seeking into the unknown

Ab dem 1.8.2019 ist dieser Artikel auch in der kostenlosen Printausgabe vom Magazin im August an allen Spielorten erhältlich.

Die Choreografin Anne Nguyen spricht über ihre Karriere zwischen Hip-Hop und zeitgenössischen Tanz, und über Breakdance als zeitgenössische Form von Kampfkunst.

Interview: Virve Sutinen

Virve Sutinen: Wie würdest du deine Beziehung zum Hip-Hop beschreiben?

Anne Nguyen: Ich habe mich nicht bewusst dafür entschieden, Choreografin zu werden. Nachdem ich lange als Breakdancerin bei Battles aufgetreten bin und für andere Choreograf*innen getanzt habe, habe ich einfach das Bedürfnis verspürt, die Wahrnehmung von Hip-Hop zu verändern und die Virtuosität dieser Auftrittsform sichtbar zu machen. Ich fordere die Tanzform und die ursprüngliche Funktion von Bühnenauftritten heraus. Ich finde es spannend, Bewegungen aus dem Hip-Hop, die meistens kreisförmig sind, geometrisch zu übertragen, denn sie müssen auf der Bühne, einem eckigen Raum ausgeführt werden. Ich erforsche die Beziehung zwischen dem*der Tänzer*in und dem Publikum, die Beziehung zum*zur Partner*in und das Gemeinschaftsgefühl auf der Bühne. Für mich liegt die Essenz von Hip-Hop in der Lust, sich mit unseren tierischen Instinkten zu verbinden, in dem Bedürfnis nach körperlicher Ausgelassenheit, in der Lust, die Formen und die Energien, die uns umgeben, zu überwinden. Hip-Hop spricht alle an, weil es Bewegungsfreiheit und Technik kombiniert. Indem ich die Bewegung choreografiere, möchte ich ihre implizite Bedeutung erweitern.

VS: Wo hast du als junge Künstlerin mit einem Hintergrund in Urban Dance Unterstützung gefunden?

AN: Als erstes habe ich eine Gedichtsammlung herausgegeben, das „Manuel du Guerrier de la ville“ (Handreichung für den Stadtkrieger), in der ich das Gefühl der Freiheit beschreibe, das man beim Tanzen empfinden kann, und Urban Dance mit Architektur verbinde. Der Choreograf Faustin Linyekula, für den ich damals arbeitete, brachte mich dazu, aus diesen Gedichten ein Solo zu machen: so entstand 2005 “Racine Carrée“. Es war ein sofortiger Hit im Tanzmilieu und ich bin damit viele Jahre durch die ganze Welt getourt, während ich weiterhin meiner Leidenschaft für Breakdance im Rahmen von Battles und Cyphers nachging. Damals habe ich auch meine eigene Tanzkompanie gegründet und meine Karriere als Tänzerin für zeitgenössische und Hip-Hop Tanzkompanien hat begonnen, unter anderem mit der bekannten Kompanie Black Blanc Beur. Ich bin sehr dankbar dafür, dass viele Leute, die mein Solo gesehen hatten, die darauffolgenden Projekte unterstützten. Auch auf der Institutionsebene bekam ich Unterstützung. Ich gebe zum Beispiel seit 2012 einen künstlerischen Hip-Hop-Workshop an der Universität Sciences Po Paris.

VS: Wie siehst du deine Rolle als Künstlerin in der Gesellschaft?

AN: Künstler*innen müssen das Unbekannte erforschen, müssen versuchen, daraus einen Sinn abzuleiten. Ich konzentriere mich auf die Geste als Symbol, den Körper als Eigentumsgegenstand, Bewegung als Grundbedürfnis, die Bühne als Plattform des Teilens. Ich möchte die Grenzen unserer Freiheit, unser Bild der Freiheit, unsere Lust nach Freiheit hinterfragen. Durch das Choreografieren möchte ich symbolische Räume schaffen, in denen kraftvolles, befreiendes, fieberhaftes Tanzen zum magischen Ritual wird dessen Ziel es ist, uns wieder für die Gegenwart zu interessieren, für das Potential unseres eigenen Lebens. Wenn ich eine Show entwickle, versuche ich die Tänzer*innen und diejenigen, die zuschauen, in eine transformative Erfahrung einzubinden. Choreografieren heißt, Vertreter*innen der Menschheit in das Bild einer kodifizierten Welt projizieren. Die Verbindungen zwischen den einzelnen Menschen, zwischen ihnen und ihrer Welt, und die Verbindungen zwischen ihnen und dem Woanders, das durch das Publikum vertreten wird, sind der Weg, den jedes Individuum gehen muss - egal ob Performer*in oder Zuschauer*in.

VS: Was fördert deine Kreativität?

AN: „Yonder Woman“, „PROMENADE OBLIGATOIRE“, „Autarcie“, (...), „Kata“: die Titel meiner Arbeiten sagen einiges aus über meine zahlreichen Einflüsse, sie reichen von Mathematik über Mythen und Utopien bis hin zur Kampfkunst. Ich habe Gymnastik und Kampfkunst gelernt, unter anderem Viet Vo Dao, Capoeira und brasilianisches Jiu-Jitsu. Ich habe auch Physik, Linguistik und Literatur studiert. In meinen Shows geht es ums Tanzen. Ich unterscheide nicht zwischen der technischen Exzellenz der Körpersprache und der Intention, die von den Tänzer*innen vermittelt wird. Es beginnt alles mit der Essenz der Geste, der Haltung des Körpers, der Position im Raum und der Beziehung zum „Anderen“. Hip-Hop ist ein Ort, an dem sich Haltungen, Prinzipien und Energien entwickeln können, die voller Bedeutung sind. Ich konzentriere mich sehr auf die herausragende Ausführung einer Bewegung, aber ich lehne jeglichen akademischen Ansatz ab: ich entwickle die Fähigkeiten aller Tänzer*innen. Ich schaffe Verbindungen zwischen den Bewegungen und dem Raum, den die Körper bewohnen, indem ich technische Einschränkungen und das Spielen erforsche.

VS: Welcher Gedanke steckt hinter „Kata“? Anders gesagt: Was sollten die Zuschauer*innen wissen bevor sie sich „Kata“ angucken?

AN: Ich bin ganz natürlich zum Tanz gekommen, aufgrund eins starken Bedürfnisses über effiziente, effektive Bewegungen hinauszugehen. Mit „Kata“ wollte ich das Gegenteil erreichen, nämlich mit einem Tanz anfangen, der aus Bewegungen besteht, die auf den ersten Blick nutzlos scheinen, und dann den Nutzen in jeder Bewegung entdecken. Für mich ist Breakdance eine zeitgenössische Form der Kampfkunst, ein Umgang mit der feindlichen urbanen Umgebung, die den Körper durch die Brutalität seiner Formen und Einschränkungen verändert. Selbst wenn man im Alltag keinen Feinden begegnet, man keine körperlichen Meisterleistungen erbringen muss, kommt der Kampfgeist, der die Welt der Lebenden antreibt, im Breakdance zum Ausdruck. Es ist eine Form von Disziplin und Ritual, die sich mit unseren tiefsten Instinkten verbindet, wie das Entwickeln körperlicher Kraft und das Erobern von Gebieten. Die acht Tänzer*Innen in „Kata“ stelle ich als Vertreter*innen eines Krieger*innenideals dar, das in der heutigen Welt absurd scheint. Der Abend besteht aus drei Teilen: dem idealen Kampf, dem alltäglichen Kampf und dem absurden Kampf.

Compagnie par Terre / Anne Nguyen

Kata

16.8, 19:00 | 17.8, 17:00 | 18.8, 15:00 | radialsystem
Deutschlandpremiere