Virve Sutinen: Wie würdest du deine Beziehung zum Hip-Hop beschreiben?
Anne Nguyen: Ich habe mich nicht bewusst dafür entschieden, Choreografin zu werden. Nachdem ich lange als Breakdancerin bei Battles aufgetreten bin und für andere Choreograf*innen getanzt habe, habe ich einfach das Bedürfnis verspürt, die Wahrnehmung von Hip-Hop zu verändern und die Virtuosität dieser Auftrittsform sichtbar zu machen. Ich fordere die Tanzform und die ursprüngliche Funktion von Bühnenauftritten heraus. Ich finde es spannend, Bewegungen aus dem Hip-Hop, die meistens kreisförmig sind, geometrisch zu übertragen, denn sie müssen auf der Bühne, einem eckigen Raum ausgeführt werden. Ich erforsche die Beziehung zwischen dem*der Tänzer*in und dem Publikum, die Beziehung zum*zur Partner*in und das Gemeinschaftsgefühl auf der Bühne. Für mich liegt die Essenz von Hip-Hop in der Lust, sich mit unseren tierischen Instinkten zu verbinden, in dem Bedürfnis nach körperlicher Ausgelassenheit, in der Lust, die Formen und die Energien, die uns umgeben, zu überwinden. Hip-Hop spricht alle an, weil es Bewegungsfreiheit und Technik kombiniert. Indem ich die Bewegung choreografiere, möchte ich ihre implizite Bedeutung erweitern.
VS: Wo hast du als junge Künstlerin mit einem Hintergrund in Urban Dance Unterstützung gefunden?
AN: Als erstes habe ich eine Gedichtsammlung herausgegeben, das „Manuel du Guerrier de la ville“ (Handreichung für den Stadtkrieger), in der ich das Gefühl der Freiheit beschreibe, das man beim Tanzen empfinden kann, und Urban Dance mit Architektur verbinde. Der Choreograf Faustin Linyekula, für den ich damals arbeitete, brachte mich dazu, aus diesen Gedichten ein Solo zu machen: so entstand 2005 “Racine Carrée“. Es war ein sofortiger Hit im Tanzmilieu und ich bin damit viele Jahre durch die ganze Welt getourt, während ich weiterhin meiner Leidenschaft für Breakdance im Rahmen von Battles und Cyphers nachging. Damals habe ich auch meine eigene Tanzkompanie gegründet und meine Karriere als Tänzerin für zeitgenössische und Hip-Hop Tanzkompanien hat begonnen, unter anderem mit der bekannten Kompanie Black Blanc Beur. Ich bin sehr dankbar dafür, dass viele Leute, die mein Solo gesehen hatten, die darauffolgenden Projekte unterstützten. Auch auf der Institutionsebene bekam ich Unterstützung. Ich gebe zum Beispiel seit 2012 einen künstlerischen Hip-Hop-Workshop an der Universität Sciences Po Paris.
VS: Wie siehst du deine Rolle als Künstlerin in der Gesellschaft?
AN: Künstler*innen müssen das Unbekannte erforschen, müssen versuchen, daraus einen Sinn abzuleiten. Ich konzentriere mich auf die Geste als Symbol, den Körper als Eigentumsgegenstand, Bewegung als Grundbedürfnis, die Bühne als Plattform des Teilens. Ich möchte die Grenzen unserer Freiheit, unser Bild der Freiheit, unsere Lust nach Freiheit hinterfragen. Durch das Choreografieren möchte ich symbolische Räume schaffen, in denen kraftvolles, befreiendes, fieberhaftes Tanzen zum magischen Ritual wird dessen Ziel es ist, uns wieder für die Gegenwart zu interessieren, für das Potential unseres eigenen Lebens. Wenn ich eine Show entwickle, versuche ich die Tänzer*innen und diejenigen, die zuschauen, in eine transformative Erfahrung einzubinden. Choreografieren heißt, Vertreter*innen der Menschheit in das Bild einer kodifizierten Welt projizieren. Die Verbindungen zwischen den einzelnen Menschen, zwischen ihnen und ihrer Welt, und die Verbindungen zwischen ihnen und dem Woanders, das durch das Publikum vertreten wird, sind der Weg, den jedes Individuum gehen muss - egal ob Performer*in oder Zuschauer*in.