Reinigungs- und Hoffnungsrituale

Ab dem 1.8.2019 ist dieser Artikel auch in der kostenlosen Printausgabe vom Magazin im August an allen Spielorten erhältlich.

Die Choreografin Oona Doherty setzt sich auseinander mit gesellschaftlichen Themen und Gewalt in ihrer Heimatstadt Belfast, ihre Arbeiten sind aber auch Träger von Hoffnung und Kraft. Ein Portrait.

Text: Rachel Donnelly

„Liebe ist so mächtig, dass sie sich gegen sich selbst wenden kann, wenn sie sonst nicht richtig zum Ausdruck kommt.“ – Oona Doherty

In ihrem Essai „We Dance What We Remember: Memory in Perceiving and Performing Contemporary Dance“ zählt Catherine J. Steves drei Hauptformen auf, die Tanz annehmen kann: „Tanz als Ritual, als gesellschaftliches Ereignis, oder als Kunst“. Zeitgenössischer Tanz fällt meistens in die Kategorie Kunst, in Abgrenzung vom Ritual. Wenn man es als Kunst betrachtet, ist Tanz ein Objekt der Betrachtung aus der Entfernung. Die Bewegung wird durch die Augen aufgenommen und vom Gehirn verarbeitet, während unsere Körper reglos bleiben – das stimmt aber natürlich nicht. Unser Herzschlag, unsere Haut, unser Atem, unser Bauchgefühl reagieren auf das, was wir im Raum sehen, hören, riechen und spüren. Die Informationen, die wir aufnehmen, sind vielgestaltig und werden von verschiedenen Körperteilen aufgenommen, die Hand in Hand arbeiten, um einen allgemeinen emotionalen Zustand zu erzeugen. Es wirft die Frage auf: was macht das Sehen von live Tanz mit den Körpern im Publikum?

Die 33-jährige in Belfast lebende Choreografin und Performerin Oona Doherty hat schon eine einzigartige Tanzsprache und ein Wertesystem entwickelt, die sich dieser Frage annehmen. Ihre Laufbahn ist geprägt von Aufenthalten in London, an der University of Ulster, der Echo Dance Theatre Company in Derry in Nordirland und dem Trinity Laban Conservatoire of Music and Dance in London, sowie Diskos in London, Sardinien und Ibiza. Für Doherty sind die Arbeiten anderer Choreograf*innen, in denen sie tanzt, und ihre eigenen Choreografien, Reinigungs- und Hoffnungsrituale – zahlreiche ihrer frühen Arbeiten befassen sich mit dem aufgewühlten Herzen ihrer Heimatstadt. Doherty zog 1992 im Alter von zehn Jahren von London nach Belfast, also vor dem Friedensprozess, als die Stadt von Gewalt und Angst geprägt war. Die Ankunft in einer ganz anderen Energie und Umgebung hinterließ einen starken Eindruck.

„Ich erinnere mich an den Tag, als ich zum ersten Mal auf der Straße in Belfast spielte – ich hatte in London noch nie auf der Straße gespielt. Ich hatte wahrscheinlich einen Minnie-Pulli und eine Schlafanzughose an, und ging mit meinem Notizheft in der Hand auf die Straße, um Geschichten oder Gedichte zu schreiben. Aber dann freundete ich mich mit Kindern aus der Gegend an und veränderte mich – mir wurde klar, dass ich einen Umbro-Trainingsanzug tragen muss und ich lernte, Kohleschuppen hochzuklettern. Und in der Kirche war es anders als in England, die Kirche war voller Trauer und Tragödien.“

Dohertys Performance „Hard to be Soft“ entstand aus dem Wunsch heraus, das Trauma, das Belfast als Körper kollektiv in sich trägt, teilweise zu heilen. Sie sieht dieses Trauma in der Körpersprache der jungen Männer auf den Straßen der Stadt. Ihr erstes längeres Stück „Hope Hunt“ (2014), mit dem sie bekannt wurde, kanalisiert genau diese Energie. Das Solo beginnt außerhalb des Theaters mit Doherty, die aus dem Kofferraum eines Autos steigt, aus dem laute Beats ertönen. Der Teil des Abends, der im Theater stattfindet, hat einen Soundtrack: das Dokudrama „Wee Bastards“, ein Kurzfilm, der das Leben auf Belfasts sogenannten schlimmen Straßen darstellt. Doherty war es wichtig, dass der Abend draußen beginnt, da es vor allem um die Leute geht, „die nicht im Theater sind“.

Der Ausgangspunkt von „Hope Hunt“ war vor allem ein Bild: „Ich glaube, es kam durch die Bilder von Wolfgang Tillmans und Andrew Parr, einem britischen Fotografen, der Leute in Fish and Chips-Imbissen fotografiert. Ich sah ein Bild vom Easter House, einer großen Wohnsiedlung, die in Glasgow in den 70er Jahren gebaut wurde. Aus dieser Ästhetik entstanden ‚hunter‘ (Jäger), diese Jungs. Das wurde dann zu „Hope Hunt“. Zu der Zeit habe ich dieses Haus in Bangor gekauft, wodurch mir bewusster wurde, wo ich mich in der gesellschaftlichen Hierarchie befinde. Daher war es mir wichtig, das Auto in das Konzept für den Abend zu integrieren – es geht um die Leute, die nicht im Theater sitzen.“

Die Entwicklung von „Hope Hunt“ hin zu „Hard to be Soft“ ist eindeutig – der ‚Hunter‘ ist in der zweiten Arbeit auch sehr präsent, und wir sind weiterhin in Belfast. Für Doherty gibt es dort auch eine narrative Verbindung: „Erst stirbt der ‚Hunter‘, dann erwacht er im Limbus, und in ‚Hard to be Soft‘ sieht er sein Leben an seinen Augen vorbeirauschen, bis Episode 4 [‚Helium‘], dem Moment der Transzendenz und des Loslassens, wonach er entweder das Nirwana erreicht oder wieder aufersteht. Das ist der Schluss von ‚Hard to be Soft‘“.

Sie hofft durch Bewegung und Schweiß negative Energie zu beseitigen. Jedes der vier Kapitel von „Hard to be Soft“ beleuchtet ein unterschiedliches Element der unbändigen und brüchigen Energie Belfasts, sowohl aus der weiblichen wie auch der männlichen Perspektive. Solo-Auftritte von Männern rahmen den Abend (erst „Lazarus and the Birds of Paradise“, von Doherty selbst getanzt, der letzte, „Helium“, von dem nordirischen Tänzer Ryan O’Neill). Beide Soli haben die Qualität einer Zeremonie, einer Beschwörung, als würden die Performer*innen versuchen etwas jenseits der Gegenwart heraufzubeschwören. Zwischen diesen Soli werden ein Duett zwischen zwei Männern („Meat Kaleidoscope“) und ein Ensemblestück für eine Gruppe junger Mädchen („Sugar Army“) gezeigt.

„Meat Kaleidoscope“ war inspiriert von der schwierigen Beziehung zwischen Dohertys Bruder und ihrem Vater, und stummen, verhinderten männlichen Beziehungen im Allgemeinen. Der Titel des Kapitels bezieht sich auf die Überzeugung der Choreografin, dass man toxische Energien durch das Körperfleisch exorzieren kann. Sie beschreibt den Anfang ihrer letzten Arbeit, „Lady Magma“, die im April dieses Jahr in Paris Premiere feierte, wie folgt: „‚Lady Magma‘ beginnt mit dem Abschnitt ‚the ancestors‘ (die Vorfahren): indem man dem Fleisch in seinem Körper lauscht befreit man sich von der Energie der Vorfahren, die in der eigenen Kinesphäre oder der Kinesphäre des Planeten feststeckt.“

Doherty ist nicht nur für ihre Darstellung der Straßenallüren junger Männer in ihrer Heimatstadt und ihrer verborgenen Zerbrechlichkeit bekannt, sondern vor allem für ihre besondere Bewegungsqualität. In ihrer Körperlichkeit liegen Kraft, Rage und Trotz, und sie knallt ihren Körper immer wieder hart auf den Boden. Sie hat sich selbst als „süchtig nach dem Fallen“ beschrieben, was sie auf ihre Zusammenarbeit mit der niederländischen Kompanie t.r.a.s.h. zurückführt, die sich in fiebrigen Momenten des Ausrastens dem Ausdruck durch wilde, vibrierende Bewegungen, verschmierte Schminke und extreme Gesichtsverzerrungen hingab. Ein Fotograf beschrieb Doherty als „Buster Keaton auf Speed“.

Ich traf Doherty letztes Jahr, als sie noch an „Lady Magma“ arbeitete, und es wirkte, als würde sie etwas Neues erforschen. Die Besetzung von „Lady Magma“ besteht nur aus Frauen und Doherty ging es darum, eine andere Bewegungsqualität zu erforschen – etwas weniger Extremes, weniger körperlich Hartes. Der Ausgangspunkt ihres Stücks war die weibliche Sexualität und der Rhythmus weiblicher Orgasmen. Als sie im Rahmen des Interviews im April 2019 über ihre Arbeit nachdenkt, nur einige Wochen vor der Premiere, unterscheidet sich diese Arbeit in ihren Augen nicht von den anderen, denn es geht weiterhin um die Suche danach, wie man durch ein positives Ritual eine Performance schaffen kann.

„Mit ‚Lady Magma‘ interessiert mich, wie man Choreografie heilsam einsetzen kann, und mir ist bewusst geworden, dass dies auch für ‚Hard to be Soft‘ gilt. In meiner letzten Probe mit der Paris Sugar Army, gestern, habe ich ihnen den Anfang von ‚Magma‘ beigebracht, und dachte, sie wären zu jung für diese spirituelle Arbeit mit dem Perineum. Aber ich habe es den Kindern gezeigt, sie haben geweint und gelacht und haben verstanden, was es ist. Es ist unwichtig, ob man professionelle*r Tänzer*in ist oder nicht, der eigene Körper ist der eigene Körper... alle sollten gleichbehandelt werden, oder? Der Gedanke einer reinigenden Energie, und das rituelle, positive Element von ‚Hard to be Soft‘... na ja, ‚Magma‘ ist aus ‚Hard to be Soft‘ entstanden. Ich vertiefe das Ritual einfach – wie macht man aus einem Auftritt eine rituelle Handlung? Ich möchte spüren, dass die Choreografie im Dienste von etwas steht.“

Während ihrer Europatournee mit „Hope Hunt“ und „Hard to be Soft“, die parallel touren, und „Lady Magma“, das bald auf Tournee geht, beschäftigt Doherty die Frage, wozu Choreografie dient. Sie erhofft sich eine Katharsis für das Publikum, ist aber besorgt, dass sich die positiven Effekte des Rituals nur für die Tänzer*innen einstellen. Es ist ein fortlaufendes Experiment, da sie ihre Praxis weiterhin für sich selbst definiert und Momente des Scheiterns erlebt – etwas, das innerhalb des Tournee-Systems nicht erlaubt ist, aber für die Entwicklung eines*r Künstler*in unabdingbar ist. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht der Wunsch, dass Bewegung eine Bedeutung hat, und auch nach dem Augenblick des Auftritts eine positive Auswirkung hat.

„Ich arbeite noch daran, wie man einem Abend Ehrlichkeit verleiht. Wie schafft man es, dass es in der Choreografie um einen selbst geht, denn das ist der Moment, in dem die reinigende, energetische Arbeit ins Spiel kommt – wie gibt man dem Bedeutung? Denn das ist doch das einzig Interessante – es ist doch egal wo die Arme und Beine sind!“

Oona Doherty

Hard To Be Soft - A Belfast Prayer

17.8., 19:00 | 18.8, 17:00 | HAU1
Deutschlandpremiere