Radikale Lebendigkeit

In ihrem neuen Solostück „Velvet“ verwandelt sich Claire Vivianne Sobottke zu Musik von Tian Rotteveel von einer Frau zu einem Tier. Eingebettet in ein Bühnenbild aus Erde, Pflanzen und einem selbstspielenden Schlagzeug, legt sie die Urkräfte weiblicher Sexualität frei.

Interview: Beatrix Joyce


Welche Rolle spielen weiblicher Archetypen in deinem Stück?

Ich verstehe den weiblichen Körper als einen Raum, in dem sich viele Dinge manifestieren.  Unzählige Erinnerungen, Fantasien und Projektionen – sowohl schreckliche als auch lustige – sind im weiblichen Körper gespeichert. Ich interessiere mich für Archetypen wie beispielsweise die Höhlenfrau, die Hexe oder Frauen, die halb Mensch und halb Tier sind und untersuche sie, um tiefere psychologische Konstrukte sichtbar werden zu lassen. Zu diesen Konstrukten gehören auch Obsessionen und komische Ideen bezüglich meines eigenen Körpers. Sicher haben solche Dinge ganz unterschiedliche Gründe, und doch werden sie letztendlich alle zu einem Teil von mir. 

In welcher Verbindung steht dein künstlerischer Ausdruck weiblicher Sexualität zu Natur?

Für mich gleicht das Bühnenbild einer Art dekonstruierter Natur. Genau wie ein Garten ist es von Menschen angelegt worden und drückt die Sehnsucht danach aus, in eine Natur einzutauchen, die wir gleichzeitig kontrollieren. Mit der weiblichen Sexualität ist es ähnlich, da sie auch immer gesellschaftlich kontrolliert und gezähmt wurde. Um sie herum existiert so viel Angst und sogar wir, als Frauen, wissen viel gar nicht. So habe ich zum Beispiel erst im Arbeitsprozess zu diesem Stück erkannt, dass ich keinen freien Zugang zu meinen eigenen erotischen Fantasien habe, weil sie so von den Dingen dominiert werden, die man mir erzählt hat. Für mich ist der Begriff der Wildnis deshalb sehr wichtig: Ich verstehe ihn als Sinnbild für ein unbekanntes Territorium, in dem keine menschlichen Regeln gelten und in dem nicht-menschliche Kräfte und Wesen agieren. Und so ein Territorium kann man vielleicht nicht nur draußen in der Natur finden – sondern auch in unserer gedanklichen Welt. 

Claire Vivianne Sobottke

Velvet

28.–31.8. | HAU3
Uraufführung

Womit hast du dich während der Recherche zu „Velvet“ beschäftigt?

Schon seit Langem fasziniert mich der Zustand so genannter ‚Hysterie’. Historisch betrachtet wurden Frauen als ‚hysterisch’ bezeichnet, wenn sie an etwas litten, das mit ihrer Weiblichkeit zu tun hatte oder ihnen eine „wandernde Gebärmutter“ attestiert wurde. Oft wurden solche Frauen zu einer Behandlung gezwungen, die ihnen diese Krankheiten offenbar austreiben sollten. Dabei war die Hysterie im Grunde genommen nichts Anderes als eine männliche Erfindung. In meiner Praxis möchte ich diese Art der Teufelsaustreibung neu beanspruchen: Anstatt sie als etwas darzustellen, das (wie im Fall der Hysterie) Frauen von Männern aufgezwängt wurde, mache ich sie zu einem positiven und selbstermächtigenden Prozess.

Hast du das Gefühl, dass du von deinem Publikum zu einem Objekt gemacht wirst?

Was heißt es überhaupt, objektiviert zu werden? Was mich interessiert ist, wie ich verändern kann, wie Andere mich sehen. Sehen sie mich eher als Form bzw. Objekt oder nehmen sie mich als Person wahr? Ein Körper, der sich der Kategorisierung entzieht, kann Subjekt und Objekt zugleich sein – oder sich zwischen diesen beiden Kategorien bewegen. In so einer Situation können wir uns umschauen und die Dynamik des auf uns gerichteten Blicks herausfordern. Wir können fragen: Welche Rolle übernehme ich in diesem Spiel? Mag ich es manchmal, das Objekt zu sein? Wen objektiviere ich und auf welche Art objektiviere ich mich selbst? Erotik ist vielleicht nicht politisch oder ethisch korrekt. Sie kann es natürlich sein, muss es aber nicht. Die Sexualtherapeutin Esther sagt, dass „das Erotische ein Gegenpol zum Tod“ bildet. Somit ist Erotik auch eine radikale Lebendigkeit – sie ist ein ein lebendig sein ohne Zügelung und ohne Versprechen.
 

Dieses Interview ist Teil einer Interview-Serie in Zusammenarbeit mit den Tanzschreibern, Berlins Portal für Tanzrezensionen. Weitere Interview und Reviews von den Tanzschreibern folgen bald an dieser Stelle im Online Magazin von Tanz im August und unter www.tanzschreiber.de

Übersetzung: Mieke Woelky