Im Wandel der Andersheit

Ab dem 1.8.2019 ist dieser Artikel auch in der kostenlosen Printausgabe vom Magazin im August an allen Spielorten erhältlich.

Text: Claudia Galhós

Um von einer Welt sprechen zu können, in der Vorurteile endlich überwunden worden sind, in der wir nicht in ständiger Angst vor einem Rückfall leben müssen, braucht es neue Namen, neue Wörter. Das Ensemble Dançando com a Diferença (Dt. Tanzen mit der Andersheit) trägt nach wie vor den Namen, den ihm sein Gründer Henrique Amoedo 2001 verliehen hat. Doch die Premiere von La Ribots “Happy Island“ 2018 hat gezeigt, dass das Ensemble sich von seinen Anfängen weit entfernt hat. Und das trotz vieler Verunsicherungen: das Ensemble hat schwierige (z.B. ökonomische) Herausforderungen bewältigt, zuweilen aber auch die wunderbar poetische Fragilität genutzt, die jenen Menschen innewohnt, die ihr Potenzial zu erfüllen suchen und dabei sie selbst bleiben möchten. Heute ist der inklusive Tanz nur mehr eine entfernte Idee, die am Ausgangspunkt seiner Entwicklung stand.

Auch wenn sich das Projekt von Beginn an im zeitgenössischen Tanz verortete, so wurde mit Ivonice Satie als erstes eine Choreografin mit klassischer Tanzerfahrung eingeladen, ein Stück für Dançando com a Diferença zu choreografieren. So entstand 2003 “Passion“.                  Henrique Amoedo, künstlerischer Leiter und Gründer des Projekts, entwickelte mit “Menina da Lua“ bald schon ein Stück, das sich als wegweisend für die künftige Identität des Ensembles herausstellen sollte. Im Stück – kurze fünf Minuten voller Zärtlichkeit – entdecken sich zwei Menschen gegenseitig. Jede Bewegung offenbart die Präsenz des*der Anderen, als ob bereits eine einfache Liebkosung eine erdrückende Erkenntnis auszulösen vermag. “Menina da Lua“ war eine poetische, fast ätherische Heraufbeschwörung zweier Körper, zweier Wesen, die sich gegenseitig entdecken. Das Stück barg bereits das Potential des künftigen Tanzes, es war ein fragiler, behutsamer Anfang. Mit zärtlich ausgetauschten Blicken und Gesten finden im unermesslichen Unterschied zwischen dem riesigen Mann und der Fragilität des Kindes vorsichtige, von überbordender Fürsorge getragene Annäherungsversuche statt. Von Anfang an sind da Zärtlichkeit und Unruhe.

Bei der Premiere von “Menina da Lua“ war Bárbara Matos 9 Jahre alt, Diagnose: Trisomie 21. Zeitweise wirkte sie ganz in sich gekehrt. Durch den Tanz und durch die Herausforderungen, die Amoedo ihr zusätzlich stellte, hat sich Matos inzwischen geöffnet. Sie hat gelernt, Erlebtes wieder aufzugreifen, und meistert trotz ihrer erfrischenden Unangepasstheit das Spiel der Wiederholung, das auch das Spiel der Bühne ist. Dort pulsiert Bárbara Matos. Das herzerwärmende Mädchen hat sich zur Tänzerin gemausert, sie ist heute 25 Jahre alt und das Spiel der ständigen Verfremdung im Tanz ist ihr vertraut.

Henrique Amoedo schuf “Menina da Lua“ 2003 als Duett für sich und Bárbara.  Inzwischen tanzt er nicht mehr selbst, sondern wird von Telmo Ferreira vertreten, der dem Ensemble als 11-Jähriger beitrat. Ferreira ist heute 29 und kann eine persönliche Geschichte vorweisen, die Stoff für zahlreiche Geschichten hergeben würde. Zu seinem Platz im Kollektiv ist er durch die Arbeit als Tänzer, aber auch als Produktionsassistent (unter anderem für La Ribots Stück) gekommen. Zurzeit leitet er außerdem den Dançando com a Diferença-Verein.

Zwei Performer*innen im Stück "Happy Island" von La Ribot

Als Henrique Amoedo Dançando com a Diferença auf Madeira gründete, hatte er als Mitgründer (und von 1995 bis 1998 als Leiter) des Projekts Roda Vida Cia. de Dança bereits praktische Erfahrung gesammelt. Das praktische Wissen ergänzte Amoedo mit einem theoretischen Studium, das ihn auch an die Sportwissenschaftliche Fakultät der Universität Lissabon führte, wo er sich auf die Erforschung und Entwicklung eines Konzepts für inklusiven Tanz konzentrierte. Einer Einladung des Fachbereichs für Sonderpädagogik der autonomen Region Madeira folgend, brachte er das Projekt schließlich auf die Insel Madeira.

Dass sich ein Projekt dieser Größe und Positionierung über die kleine und isolierte Inselgruppe Madeira hinaus im internationalen Kontext behaupten konnte, mag erstaunen. Doch das Projekt untersteht einem sonderpädagogischen Dienst, dessen Methoden und Techniken in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung wegweisenden sind. “Mit Musiktherapie wurde bereits gearbeitet“, erinnert sich Amoedo, “und auch mit Theater und Bildender Kunst“. Er selbst brachte noch den Tanz dazu und die Inklusion als Ansatz, der der Ausgrenzung ein Ende setzen sollte – also den Anspruch stellte, Menschen mit Behinderung nicht zu isolieren und Menschen ohne Behinderung in diese Arbeit miteinzubeziehen. “Das hat eine große Veränderung auf der ganzen Insel eingeläutet, was sich positiv auf Musik, Theater und Bildende Künste ausgewirkt hat, die auch inklusiv wurden.“ Mittlerweile findet das Konzept der Inklusion weltweit Anklang. Auch die geografischen Eigenschaften Madeiras, die Abgeschiedenheit und Größe der Insel stellten sich als Vorteil heraus: “Auf der kleinen Insel konnten wir gleich viel mehr Menschen erreichen.“

Die Premiere von Clara Andermatts Stück “Levanta os Braços como Antenas para o Céu“ (Dt. “Streck die Arme wie Antennen in den Himmel“) 2005 stellte einen Bruch dar: “Es war ein großer Schock, dass wir uns nicht mehr daran orientierten, was als Tanz anerkannt und vom Publikum akzeptiert wird. Clara entblößt Körper, sie entblößt die Menschen“. Bei der Arbeit an dem Stück wiederholte die portugisische Choreografin eine Bitte: “Weniger Tanzen, weniger Tanzen, ich will euch auf der Bühne.“ Im Rückblick ist sich der künstlerische Leiter sicher, dass diese Bitte und ihr künstlerisches Ergebnis “logischerweise zu einer größeren Entblößung der Tänzer*innen führten“. Das Publikum von Dançando com a Diferença war in diesen Jahren noch familiär, das Stück hat viele schockiert.

Interessanterweise hat sich “Levanta os braços...“ durch seine Langlebigkeit bewährt, acht Jahre stand es auf dem Spielplan.“Es ist, als ob die Menschen sich nach einer anfänglichen Befremdung an diese Sprache gewöhnen würden, an diese Körper, ihre Art, sich auszudrücken“, sagt Henrique Amoedo. Bevor es zu “ Happy Island“ mit La Ribot kam, arbeitete das Ensemble mit anderen renommierten Choreograf*innen zusammen, beispielsweise mit Paulo Ribeiro und Rui Horta. “‘‚Happy Island’ ist überschwänglich, entblößt aber auch ihre Gefühle, ihre jeweiligen Träume. Wir arbeiten weiterhin mit der Individualität der Tänzer*innen, versuchen auszudrücken, was sie im Innersten ausmacht“. Dass die Eigenheit dieser individuellen Körper angenommen wurde, das hatten sie sich bereits erkämpft. “Die Abwandlung ist jetzt eine andere“, findet Amoedo. “Wir entdecken in dieser Sprache, die wir mit dem Publikum teilen, was noch durchbrochen werden kann, wir ergründen neue ästhetische Räume. Das heißt auch, dass wir überlegen, was die Choreograf*innen beitragen können, was für alle eine Bereicherung bedeutet“. Um zur “glücklichen Insel“ zu gelangen, zum Schwärmen, zur Lust, Exzentrik und Sinnlichkeit von La Ribot, musste 2017 zuerst in “Doesdicon“ Tânia Carvalhos Mischung aus expressiver Überschwänglichkeit, Distanz und feinem, buntem Humor durchquert werden.

Die Tendenz zum Bruch war von Anfang an vorhanden, und wurde in der Arbeit mit Tânia Carvalho noch betont. Henrique bezeichnet die Choreografin als “die permanente Wandlung, im Wandel der Andersheit“. Sie brachte ihre eigene Welt mit, ein neues Befremden ins Befremdliche dieser Körper, wodurch ein Meister*innenstück des zeitgenössischen Tanzes entstanden ist. “Tânia ist anders als alle anderen. Ich habe sie immer mit einer düsteren Arbeit assoziiert, die mich dazu zwang, zu versuchen, das Verborgene zu verstehen. Die Frage war, wie Tânia mit den Tänzer*innen von Dançando arbeiten würde. Ich dachte, sie wird wahrscheinlich mit allen einzeln arbeiten, jeder*m den Schleier nehmen, der ihn*sie bedeckt, und darin weiter gehen als das, was in früheren Stücken schon offenbart wurde. Ich wusste, dass es anders sein würde.“

Während Henrique sich an sein Treffen mit Tânia erinnert, wird ihm etwas klar: “Die Schönheit der verborgenen Bedeutungen gibt es auch auf verschiedenen Ebenen“. Er erklärt: “Als Tânia mir sagte, wie das Stück heißen sollte, hat das eine Unterhaltung ausgelöst, in der wir beide absolut aneinander vorbeigeredet haben. Sie hat gesagt: es heißt ‚Doesdicon’. Ich habe nachgehakt: Was bedeutet dieser Titel? Sehr geduldig, auch wenn sie nicht alles preisgeben wollte, sagte Tânia schließlich: Henrique, es ist verborgen. Ich bestand darauf: Ich versteh das nicht. Tânia gab nicht nach und wiederholte: Es ist verborgen...“ Jetzt, da Henrique sich an die Unterhaltung erinnert, hat er eine kleine Offenbarung: „Für mich ist Tânia das Verborgene, es war eine Übung darin, uns allen das zu entnehmen, was in uns verborgen lag. Am Ende nannte Tânia das Stück ‚Doesdicon’, ein Anagramm von ‚escondido’ (Dt. verborgen). Diese Assoziation mache ich erst jetzt.“

Das Ensemble Dançando com a Diferença ist nahezu einzigartig auf der Welt und einer der besondersten Aspekte seiner Geschichte – von der Andersheit und Persönlichkeit Henrique Amoedos und seinen Tänzer*innen mal abgesehen – ist seine Beständigkeit. Dabei geht es nicht nur um die Beständigkeit des Projekts an sich. Auch wenn es bemerkenswert ist, dass angesichts der Widrigkeiten unserer Gesellschaft kontinuierlich und geduldig in die menschliche Entfaltung der Tänzer*innen investiert wird. In dieser Wegwerfgesellschaft wird nämlich auch im Tanz der ultravirtuose, bewegliche und sich physisch am Limit bewegenden Körper wieder zum Kapital. Natürlich gibt es ein Kommen und Gehen, nicht zuletzt deshalb, weil das Projekt Dançando com a Diferença aus verschiedenen Gruppen mit sehr verschiedenen Eigenschaften, Fähigkeiten und körperlichen Ausdrücken besteht. Daneben gibt es aber auch zahlreiche Beispiele langjähriger Tanzlaufbahnen. Die Insel Madeira, auf der alles nahegelegen ist, erlaubt es Henrique Amoedo, hinsichtlich der Selbstständigkeit seiner Tänzer*innen ein größeres “Risiko“ einzugehen, was sich wiederum positiv auf die Leistung in den Stücken auswirkt: “Zum Beispiel kann ich einem Vater oder einer Mutter sagen, dass sie ihr Kind alleine zur Probe kommen lassen müssen, dass sie es in den Bus setzen sollen und es einfach kommen soll. Ich mache sogar Witze mit den Eltern, wenn ich sage, dass, falls es sich verläuft, man nur so lange warten muss, wie es vom Bus bis zum Meer braucht. Die Geografie macht einen Unterschied, weil alles näher ist, alles ist kleiner, das gibt Sicherheit. Ich kann bei den täglichen Abläufen ein Risiko eingehen, aber ich kann auch im Repertoire etwas wagen, weil es eine andere Art der absoluten Sicherheit gibt, an die die Eltern und Familien glauben.” 2017 wurde diese Nähe um einen Ableger in Viseu außerhalb Madeiras erweitert.

2012 leistete Henrique Amoedo mit seinem Stück “Endless“ für die Gemeinschaft eine andere Erweiterung. “Endless“ behandelt den zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Es war wieder ein Schock für das Publikum. Seine Antwort auf Fragen wie “Müsst ihr euch denn als Gruppe mit Menschen mit Behinderung mit sowas auseinandersetzen?“, lautete: “Warum denn nicht? Als ob Menschen mit Behinderung nicht in Konzentrationslagern umgebracht wurden...“. Er erinnert sich, dass der Arbeitsprozess für alle sehr bereichernd war und ein Teil der Gruppe Ausschwitz besuchte.

La Ribot mit Dançando com a Diferença

Happy Island

29.–31.8. | HAU2
Deutschlandpremiere

Mit La Ribot war das Wagnis ein anderes. Ihr Name war für Henrique Amoedo ein unantastbarer Mythos, der zu einer historischen Begegnung wurde. Es war ein schicksalhafter Zufall mit dem Namen Paz Santa Cecília – eine Freundin und Produzentin La Ribots, die als Kupplerin fungierte. “‘‚Happy Island’ hat etwas Neues gebracht. Das Publikum hat sehr positiv auf das Stück reagiert und versteht trotzdem, dass es da eine neue Sprache gibt, die meiner Meinung nach mit der Form zu tun hat, wie La Ribot alles inszeniert. Es ist ihre Sprache aber auch die der Tänzer*innen, ihres Alltags, ihrer Träume und Wünsche und Exzentrizität. Das verbinden wir normalerweise nicht unbedingt mit Menschen mit Behinderung. Also fragt sich das Publikum generell ‘Was ist das? Wo bin ich hier?’”

La Ribot läutete eine neue Ära im fast zwanzigjährigen Bestehen von Dançando com a Diferença ein. Der Name des Ensembles und die Idee des inklusiven Tanzes (oder der inklusiven Kunst überhaupt) genügt nicht mehr. Eine von Menschlichkeit und Verlangen angetriebene Kunst, setzt sich durch. Sie verlangt nach einer anderen Ebene ästhetischer und erotischer Gleichheiten (oder Andersheiten). “Es ist klar, dass da eine politische Positionierung stattfindet, die andere Fragen aufwirft. Wenn man Menschen mit Behinderungen dabei unterstützt, dieses Gebiet im Tanzuniversum für sich zu beanspruchen, ohne dass sie sich irgendwie definieren müssen, öffnen sie einen neuen Raum. Sie erobern einen Raum, der ihnen bis vor kurzem noch nicht zugänglich gewesen wäre. Es ist klar, dass wir darin noch weiter gehen wollen. Ich glaube, das ist eines der Hauptziele unserer Arbeit: Räume zu öffnen, einen Kontext für uns und die, die nach uns kommen, zu schaffen. Das Konzept vom inklusiven Tanz kann sich heutzutage nicht mehr nur darauf berufen, dass ein Haufen Menschen mit und ohne Behinderung zusammen tanzen und Stücke inszenieren. Für mich ist der inklusive Tanz eine Grundlage, da geht es um technische und künstlerische Fragen. Aber wird daran gearbeitet, dass die Tänzer*innen sich als Menschen weiterentwickeln, dass sie unabhängiger werden, eine Meinung haben. Kommt all das zusammen, dann habe ich bessere Tänzer*innen und Menschen, die an jeder normalen Tanzkompanie teilnehmen können, mit einem anspruchsvollen Terminkalender, wie wir ihn jetzt haben, und mit internationalen Tourneen.“ Und das ist erst der Anfang der Geschichte...