Woman of Action

Elizabeth Streb über ihre Karriere innerhalb und außerhalb der Tanzwelt

Interview: Siobhan Burke

Wenn man ins SLAM kommt, die Lagerhalle, die Elizabeth Streb in Williamsburg, Brooklyn besitzt, hat man eher das Gefühl, man wäre bei einer Sportveranstaltung als bei einer Tanzvorstellung. An einem Sonntagnachmittag letzten April ging ich durch die Tür und gesellte mich zu den Massen, die sich versammelt hatten, um “SEA (Singular Extreme Actions)” zu sehen, eine Produktion mit einigen von Strebs Klassikern für unerschrockene Menschenkörper und imposante Maschinen.

Während ich mich auf einen der letzten freien Plätze setzte und tief in die Popcornpackung griff, die ich zu meinem Ticket bekommen hatte, ermutigte uns ein MC Krach zu machen und unsere Handys rauszuholen – nicht um sie auszuschalten, wie in den meisten Theatern, sondern um Fotos zu machen und sie großflächig zu teilen.

In der darauffolgenden kurzweiligen Stunde flirteten die acht Tänzer*innen – oder ‘Action Heroes’, wie sie offiziell heißen – mit dem Abgrund, während sie durch die Luft flogen, sich in kleine Winkel zwängten und auf harte Oberflächen prallten. In einem Stück kletterten sie ein riesiges Rad hoch, rannten über seine Oberfläche und sprangen von seinem Rahmen ins Leere. In einem anderen katapultierten sie sich selbst von einem Riesentrampolin auf den Boden. Dabei war das dumpfe Geräusch der am Boden aufprallenden Körper genauso rhythmisch wie die dazu laufende Musik. Matratzen federten den Aufprall ab.

Streb, eine selbst-ernannte ‘Action Architect’, gründete 1985 ihre Kompanie STREB Extreme Action. Nachdem sie in Lofträumen und Garagen in SoHo und Brooklyn arbeitete, richtete sie sich 2003 dort ein, wo jetzt SLAM steht – STREB Lab for Action Mechanics: eine ehemalige Senffabrik in der Nähe des Williamsburger Ufers. Das Viertel wurde bald gentrifiziert, aber SLAM ist eine Art demokratischer Außenposten. Bei den Vorstellungen ist der Eintritt nicht frei, aber bei den Proben schon: Alle können reinkommen, um der Kompanie bei der Arbeit zuzugucken, oder die Wasserspender und Toiletten zu benutzen. “Ich wollte die Idee der Unterbrechung wieder zulassen: Außenstehende, die einfach reingucken, so wie das bei jungen Künstler*innen ist”, sagt sie, “Man wird andauernd unterbrochen, wenn man ein ‘nobody’ ist.”

Als sie SLAM gründete, war Streb kein ‘nobody’ mehr: sie hatte ein Guggenheim Fellowship gewonnen, einen McArthur Genius Award und zwei Bessies (New York Dance & Performance Awards). Sie kam fast durch Zufall zum Tanz. Sie wurde mit zwei Jahren von katholischen Arbeitern adoptiert und wuchs in Rochester, New York auf, wo sie Sport trieb und Zeichnen lernte. Am College SUNY Brockport entschied sie sich spontan, ohne jegliche Ausbildung, für den Schwerpunkt Tanz. Sie ist zwar eine anerkannte Choreografin, aber sie sieht ihre Arbeit nicht als Tanz sondern als Action.

Ich setzte mich im Mai mit Elizabeth Streb zusammen, um über ihre konfliktreiche Beziehung zum Tanz zu sprechen, ihren Widerstand dagegen, nur für die Elite zu tanzen, und darüber wie ihre Kompanie über die Jahre inklusiver wurde.

Siobhan Burke: Inwiefern hat sich Ihre Arbeit verändert, seitdem Sie hier eingezogen sind?

Elizabeth Streb: Ich war 52 Jahre alt, als ich 2002 den Mietvertrag für SLAM unterschrieb. Ich bekam von der Tanzwelt das, was ich brauchte – einen Preis oder eine Kritik –, um weiterzumachen. Ich fragte mich: Soll ich den Rest meiner Tage an meiner Karriere weiterarbeiten? Ich hatte den Eindruck, ich bin mit meiner Karriere durch. Ich merkte, dass die Kunstwelt, die Tanzszene sehr elitär und sehr weiß ist, ich wollte aber die ganze Welt repräsentieren. Es ging mir nicht um Gerechtigkeit, es war eher ein Gefühl. Meine Kompanie bestand damals nur aus weißen Tänzer*innen. Meine Partnerin sagte immer wieder zu mir: “Kannst du nicht mal Auditions in Harlem machen?”. Ich behauptete, STREB sei für sich schuldig-fühlende weiße Katholiken, das war meine Ausrede. Es gab immer offene Auditions, aber langsam kamen auch People of Colour und ich habe sie engagiert. So änderte sich die Situation allmählich. Wenn wir jetzt auf der Bühne sind, steht da die ganze Welt und alle können sich mit ihr identifizieren – auch wenn das Tanzpublikum sehr weiß ist.

SB: Wann kam diese Veränderung?

ES: Ein paar Jahre nachdem wir SLAM 2003 eröffneten. Die Kompanie wurde wahrscheinlich 2005 oder 2006 vielfältiger.

Dort ging es nicht um Rassismus, sondern um das Klassensystem.

SB: Woher kam der Drang, eine vielfältigere Kompanie zu haben?

ES: Von meiner Freundin. Sie kommt aus Großbritannien, aber sie arbeitete für [die internationale Frauenrechtsvereinigung] MADRE und befasste sich als Journalistin mit der irischen Krise. Als Teenagerin ging sie nach Nordirland, um zu sehen, was dort los war. Dort ging es nicht um Rassismus, sondern um das Klassensystem. Sie hatte ein offeneres Weltbild als ich, die in Upstate New York aufgewachsen ist. Sie fragte mich: “Was machst du?”

Wenn man aus der weißen Arbeiterschicht von Upstate New York kommt und Eltern hat, die nur auf der High-School waren, dann wächst man in einem rassistischen Haushalt auf. Meine Adoptiveltern hatten nicht diesen schönen Drang der gebildeten Menschen, alles zu hinterfragen, oder wenigstens die vier Jahre Übung im Hinterfragen vom College.

Das war mir, als ich anfing zu arbeiten, gar nicht bewusst. Aber es geht nicht darum, was man tut, sondern wer es tut, wie, und welche Geschichten jeder Körper mitbringt. Eine Mischung, die in das Endergebnis mit einfließt und eine Auswirkung hat, die du nicht mehr kontrollieren kannst.

"Ich finde Tanz ziemlich langweilig."

SB: Sie erwähnten auch, wie Sie an einem bestimmten Punkt in ihrer Karriere, zugänglicher für eine breite Öffentlichkeit werden wollten.

ES: Davon träume ich, aber wir stecken fest im Foyer der Kunstwelt. Ich bin mit der Folie der Kunst markiert. Alle können es sehen und riechen. Und es gibt keine Zirkulation in der Tanzszene. Ich trete für die Elite auf. Das ist eine Tragödie. Ich bin 68. Soll ich den Rest meines Lebens für die Elite auftreten? Es gibt vielleicht Formen des Tanzes, die in der rauen Arena der USA Verbreitung finden könnten, aber es scheint keine Struktur zu geben, die das ermöglicht.

Immerhin habe ich einen ausgefallenen Probenort. Und ein Publikum, das kein typisches Tanzpublikum ist. SLAM ist im Grunde das Experiment, das zu tun, was ich tun möchte, um für jede und jeden in meiner Umgebung aufzutreten.

SB: Haben Sie noch etwas anderes unternommen, um ein breiteres Publikum anzusprechen, als die Proben zu öffnen?

ES: Das einzig Richtige, was ich tun kann, liegt in der Art der Arbeit. Ich habe eine Theorie darüber, wie nah man Gefahren an sich heranlässt. Es ist eine ganz alltägliche Beobachtung, dass reichere, privilegiertere Menschen größere Vorgärten und höhere Zäune haben. Von 1995 bis 1997 arbeitete ich in einer Garage in Bed-Stuy [Bedford-Stuyvesant in Brooklyn], bevor die Nachbarschaft gentrifiziert wurde. Ich sah Menschen in der Bodega und ihre Gesichter … Ich sah so viele vernarbte Gesichter, bei Frauen und Männern. Je größer der Sicherheitsabstand ist, desto weniger Spuren trägt der Körper. Das ist meine Analyse. Wenn man Gefahren von sich fernhalten kann, kann man sich schützen und abkapseln, aber das geht nur über Privilegien.

In meiner Arbeit ist es so: Wenn du lernen möchtest, zu fliegen, wirst du dir ein bisschen wehtun. Hört also auf, so zu tun, als sei das etwas Falsches. Natürlich versuchen wir uns nicht zu verletzen. Man kann sich ein wenig verletzen, doch nicht zu sehr. Bei jeder körperlichen, künstlerischen Methode, auch im Zirkus, landen sie nicht wirklich auf dem Boden. Sie betreiben einen großen technischen Aufwand, um die Schwerkraft zu vertuschen. Ich habe mich dazu entschieden, zu landen, und zwar mit der ganzen Wucht der Schwerkraft, und ich denke, das hat Leute aus der Arbeiterschicht angesprochen, weil sie diejenigen sind, die sich nicht schützen können. Ich glaube, der Tanz hat sich selbst umgebracht, indem er die einzige Kraft, zu der wir Zugang haben, ignorierte: die Schwerkraft. Ich glaube wir, STREB, repräsentieren genau das, aber nicht nur künstlerisch oder ästhetisch, sondern auch rau und hart. Das zieht ein anderes Publikum an, das zuschaut und versteht.

SB: Diese Idee des Schutzes und der Distanz ist interessant.

ES: Ich finde Tanz ziemlich langweilig.

SB: Alle Formen von Tanz? Gibt es Tanz, der Ihnen gefällt?

ES: Ich kam durch Zufall zum Tanz. Ich habe in der Schule immer Bildende Kunst gemacht. Mein Talent war das Zeichnen, ich habe eine gute Koordinationsfähigkeit zwischen den Augen und der Hand. Ich war Mitglied des Basketball- und Baseballteams, bin Ski und Motorrad gefahren. Ich dachte, ich werde Sportlehrerin. Aber dann kam dieses Kunstding. Als ich an der SUNY Brockport war, sah ich den Schwerpunkt Tanz und entschied mich dafür. Ich dachte: Ich kann mich bewegen und zeichnen, das ist doch die Kunst der Bewegung.

Ich wurde aufgenommen, weil es den Studiengang noch nicht lange gab, aber ich konnte nicht wirklich tanzen. Wir sollten zählen und dabei in den Spiegel gucken. Ich war geprägt von der Geschwindigkeit und der Härte des Motorradfahrens, von Basketball und Baseball, ich konnte nichts damit anfangen: Warum? Wie kann man sich bewegen und sich dabei beobachten? Wie kann man zählen, ohne damit die Bewegung zu beeinflussen?

Rumzutanzen ist einfach nicht mein Ding. Ich finde es ästhetisch uninteressant und rein privilegiert.

Ich liebe natürlich Trisha Brown und Merce Cunningham. Ich mag die intellektuellen Choreograf*innen. Rumzutanzen ist aber einfach nicht mein Ding. Ich finde es ästhetisch uninteressant und rein privilegiert. Ich glaube, Menschen wollen tanzen und nicht Anderen beim Tanzen zusehen. Wenn Sie behaupten, dass Sie sich gerne Tanz angucken, glaube ich Ihnen das nicht. Und wenn es stimmt, warum sitzen dann nur Menschen wie wir im Publikum?

SB: Wenn ich Ihre Arbeit sehe, ertappe ich mich dabei, wie ich denke “Das könnte ich nie! Wie machen die das?” Ist Ihnen das wichtig?

ES: Nein, im Gegenteil. Ich glaube, Menschen sehen einen Balletttänzer und wissen, dass es 20 Jahre bräuchte, bis sie das tun könnten. Aber viele denken: “STREB kann ich auch.” Es kommen 800 Schüler*innen pro Woche zu unseren Kursen, Kinder und Erwachsene. Sie nutzen natürlich nicht die großen Maschinen, aber sie lernen zu fliegen, auf verschiedenen Oberflächen zu landen – und nicht immer mit dem Kopf nach oben.

Es wird in the US-amerikanischen Kulturgeographie einen Ort für Action geben.

Ich suche den jambischen Pentameter der Action. Für mich ist es eine wichtige Frage, warum Bewegungen Menschen zum Weinen bringen. Welcher Teil von Bewegung berührt sie so sehr, nur durch seine abstrakte Essenz? Das ist das Ziel der dramatischen Theatersprache. Tanz hat so viel davon übersprungen, ist so selbstzufrieden. Es gibt viele Leute, die so tun, als sei meine Fußsohle mein einziger Stützpunkt und als müsse man sich immer langsam bewegen, egal ob man mit Musik tanzt oder ohne. Was ist mit Geschwindigkeit, Beschleunigung, Schwung? Sie akzeptieren, dass man keine Wand einrennen kann. Man wird langsamer, weil man weiß, dass gleich der Bühnenrand kommt. Alles wird mit mittlerer Geschwindigkeit und mittlerer Kraft gemacht, ich denke, alles andere ist extrem ungeprüft.

SB: Was ist mit zeitgenössischen Choreograf*innen?

ES: Ich mag Abby Zbikowski. Ich war vor ein oder zwei Wochen bei Bill T. Jones’ Gala und Fiona, die auch bei SLAM arbeitet, ist mit Abby Z. aufgetreten. Ich war sehr beeindruckt. Abby Z. war da, ich kannte sie vorher nicht und dachte nur: Wow, toll, danke. Sie kommt bestimmt aus der Arbeiterklasse. Warum schaffen es Frauen aus der Arbeiterklasse in ihrer Praxis ein Stück weiter zu gehen? Es hat mich wirklich gefreut, das zu sehen. Ich habe auch die Vorstellung von Alice Sheppard gesehen, einer Tänzerin mit Behinderung. Danke! Das war wunderschön, stark und wirklich körperlich.

SB: Was ist mit den Nachfahren von Trisha Brown?

ES: Ich denke, dass Menschen mit jeder ihrer Bewegungen zum Vokabular des Tanzes beitragen. In meiner Bewegungsanalyse denke ich nicht mal mehr, dass ich Tanz mache. Es wird in der US-amerikanischen Kulturgeographie einen Ort für Action geben, der nicht gleichzusetzen ist mit Zirkus, Tanz oder Sport. Und es wird genau das sein, was wir tun, auch mit der Erfindung von Maschinen, sowie die Musik auch ihre Instrumente erfindet.

SB: Sie scheinen sich vom Tanz distanziert zu haben, aber sie achten bestimmte Choreograf*innen sehr. Sie haben zum Beispiel Lucinda Childs und George Balanchine erwähnt. Sie lehnen ihre Arbeit nicht ab, aber es ist nicht das, was sie interessiert.

ES: Genau. Ich bin im Tanz zu Hause. Ich kann es nicht glauben, dass ich hier beheimatet bin. Ich dachte nicht, dass das passieren würde. 

Übersetzt aus dem Englischen von Anna-Katharina Johannsen.

Workshop: Kid Action

Bei “Kid Action” wirst du mit den ‘Action Heroes’ von Elizabeth Streb deine Energie in spektakuläre Bewegungen umwandeln und als Action-Forscher*in die Grenzen des Physikalischen erkunden: In einer Kombination aus Körpertraining, Tanz, Stunts und Akrobatik forderst du Aufprall, Geschwindigkeit und die Schwerkraft heraus.

12.8., 14:00–15:00 | HAU3 Houseclub
Alter 
8–12
Workshopsprache Deutsch & Englisch
Anmeldung unter begleitprogramm@tanzimaugust.de

Teilnahme kostenfrei
max. 20 Teilnehmer*innen

STREB Extreme Action 

SEA (Singular Extreme Actions)

11.8., 13:00 + 16:00 | Sony Center am Potsdamer Platz
Deutschlandpremiere  
Eintritt frei