Das Selbst schreiben

Interview mit der künstlerischen Leitung von “17c”, Annie-B Parson

Interview: Adriana Leshko

In "17c" spielen sich die Performer*innen von Big Dance Theater sinnlich und ehrgeizig durch die Tagebücher von Samuel Pepys, Staatssekretär des Britischen Marineamtes. Musik, Tanz, Video und Text verschmelzen zu einem spektakulären, extravaganten, intertextuellen Portrait des berühmten Don Juan des 17. Jahrhunderts und seiner tragischen Frau Bess. Annie-B Parson, eine der Künstlerischen Leiterinnen von Big Dance Theater, sprach mit Annie Leshko über das Stück, ihre Technik, Pepys Tagebücher und vieles mehr.

Adriana Leshko: Wie würden Sie die Arbeiten von Big Dance Theater beschreiben für jemanden, der sie noch nie gesehen hat?

Annie-B Parson: Big Dance Theater hat sich, wie der einfache Name schon sagt, in einen langwierigen, ästhetischen, alchemistischen Dialog mit Tanz und Theater begeben. Alle Elemente aus beiden Bereichen kommen zum Einsatz: Kostüme, Requisite, Sprache, Strukturalismus, die Verwendung von Raum und Zeit, Linearität, Kausalitäten, Beziehungen, Formen, Literatur, Ton, Gesang, Tanz …

Big Dances Arbeiten sind eine wuchernde Zusammenstellung aus Material, in der Abstraktion und erzählerisches Arbeiten zusammen an der Darstellung der Welt arbeiten. Tanz und Sprache kommen zusammen, Design, Ton, der Körper im Raum und Literatur sind wichtig. In Big Dance Stücken überschneiden sich Form und Inhalt, sie haben gleich viel Einfluss auf die Ausdrucksweise, das heißt: was wir sagen und wie wir es sagen ist gleich wichtig.

Die Inspirationsquellen für unsere Stücke sind zwar alle einzigartig, ich habe aber bemerkt, dass manche Themen immer wieder auftauchen, unter anderem die Widersprüche der Menschheit: das Verlangen, gegen die Unausweichlichkeit unserer Sterblichkeit anzukämpfen, unser Wunsch unabhängig zu sein, obwohl wir alle mit einander verbunden sind, und die verspielte Essenz von Theater im Angesicht der intrinsischen Tragik der Realität.

Meine Arbeit wurde immer davon bestimmt, dass ich Tanz in einem Theaterkontext sehe – und von dem Zusammenprall, der durch die Begegnung beider Formen entsteht. Wenn ein Text auf Bewegungsformen stößt, entstehen zwei konkurrierende Systeme. Ich bin zutiefst überzeugt von der unterstützenden und poetischen Kraft der Strukturen, die von tänzerischen Werkzeugen stammen, wie man sie nur in der Choreografie findet. Formen, die etwas erzählen, aber auch zusammenhangslose Bewegungen erzeugen können: somit können beide Elemente auf einander prallen und in einander nachhallen. Ich bin ausgebildete Choreografin und meine ersten Arbeiten waren Tanzstücke. Als ich meine eigene Kompanie gründete, arbeitete ich mit dem Schauspieler und Regisseur Paul Lazar, somit kamen theatralische Elemente in meine Arbeit.

Die Stimme von Bess Pepys ist, wie viele der damaligen Frauenstimmen, verloren gegangen.

AL: Welchen Themen und Ideen gehen Sie in "17c" nach?

ABP: Die Arbeit wirft viele Fragen auf: Was bedeutet es, hyperproduktiv zu sein? Wie haben sich unsere Technologien, das Selbst zu schreiben, verändert? Inwiefern hat uns das verändert? Und in Bezug auf Bess, deren Stimme wie viele der damaligen Frauenstimmen verloren gegangen ist: Was bedeutet es, wenn die Tagebücher NICHT so lange überleben? NICHT gelesen zu werden? Das Vernichten vom Erbe der Frauen verhindert, dass Identität(en) für Frauen vererbt werden können. Im Gegensatz zu Männern, die in Bezug auf die Veröffentlichung ihres ‘Selbst’ narrative Kontinuität besitzen. Wie kann man Identitäten zurückerlangen, die ausgelöscht wurden? In "17c" habe ich die verlorenen Stimmen aus der Verdrängung geholt, indem ich für Bess einen Text schrieb, der zirkulär ist, der Zwiespalt und Traurigkeit erlaubt. Das Stück konfrontiert das Publikum mit einer Verschmelzung des 17. Jahrhundert mit dem Heute, zwischen denen aber 350 Jahre liegen, in denen mächtige Männer weniger mächtige Frauen misshandelten (Uber, Trump, Murdoch, Weinstein…).

AL: Wie kamen Sie ursprünglich auf Pepys? Inwiefern ist das obsessive Aufzeichnen seines eigenen Lebens für uns heute relevant?

ABP: Ich begegnete Samuel Pepys ausführlichen Tagebüchern zuerst in einer Kurzfassung. Ich war begeistert und fühlte mich bestätigt davon, wie wichtig es ihm war, Tanzen zu lernen, ins Theater zu gehen (er sah es als Laster, von dem er sich nicht freimachen konnte), und täglichen Gesangs- und Musikunterricht zu nehmen. Die Vergangenheit ist so anders als das gegenwärtige Leben, und es schien, als sei hier die Chronik einer Zeit, in der Kunst von großer Bedeutung war, und man – ganz anders als heute – für sie lebte und kämpfte. Mich interessiert der Zwiespalt zwischen den Zeiten.  Zugleich war Pepys wirklich ungewöhnlich für seine Zeit, nicht weil er Tagebücher schrieb, sondern wegen seines zwanghaften, direkten und unzensierten Schreibens – das hat mich an eine Facebookseite erinnert! Ganz wie bei unseren kontinuierlichen Updates in den sozialen Medien, musste er alles notieren, sonst fühlte er sich verloren. Er hatte auch dieses obsessive Bedürfnis, seinem täglichen Dasein in Echtzeit eine Bedeutung zu geben. Fern von der damaligen blumigen Sprache hielt er jeden Zahnschmerz, jedes Verlangen, jeden Wunsch, jede Aufregung und jede Kleinigkeit fest, während er durch seinen Alltag ritt, lief, grapschte, schikanierte und tanzte. Die Beschreibungen seines Lebens sind losgelöst von jeglicher moralisierenden oder spirituellen Komponente, Pepys bleibt "auf dem Boden der Tatsachen."

Später fand ich eine ungekürzte Fassung der Tagebücher und entdeckte eine düstere, unschönere Seite von Pepys. Obwohl er ein für die damalige Zeit typisches Selbstbewusstsein hat, ist er sich seiner Ablehnung und Aggression Frauen gegenüber gar nicht bewusst, er fühlt sich davon eher bestärkt. Pepys schreibt offen darüber, wie er Frauen begrapscht und vergewaltigt, als sei es etwas Selbstverständliches. Der Subtext des Ganzen ist, dass dieses Verhalten akzeptiert und normal ist. Er scheint keinerlei Scham oder Angst vor Konsequenzen zu empfinden. Sein unzensiertes Schreiben über seine Misshandlung von Frauen macht ihn angreifbar und macht es wertvoll, ihn zu beobachten, zu befragen und zu hinterfragen.

AL: Wer war Margaret Cavendish und welche Rolle spielt sie in der Arbeit?

ABP: Mad Madge, wie man sie damals nannte, war eine Dramatikerin des 17. Jahrhunderts, die damals größtenteils unveröffentlicht blieb, aber zur selben Zeit wie Pepys in derselben Stadt lebte. Sie liefen sich über den Weg. Sie war eine radikale feministische Denkerin und ein enfant terrible. Mir kam die Idee, ein Stück, das Pepys und Bess hätten sehen können, in "17c" zu integrieren. Ich wollte die Stimme einer Frau einbringen. Die Themen von Margaret Cavendish sind die Frauen, ihr Leben und ihre Freiheiten. Ich bin sofort ihrem Charme verfallen. Ich habe eine Bearbeitung ihres Stücks "The Convent of Pleasure" als Stück im Stück eingefügt.

AL: Können Sie mehr sagen über die Bedeutung von Bewegung und Choreografie für die Figur von Bess, Pepys chronisch kranker Frau?

Tanz war eine Möglichkeit, Bess zu Worte kommen zu lassen, ohne ihre Tagebücher gelesen zu haben.

ABP: Ich habe mir im Laufe der Jahre, während ich die Tagebücher las, immer wieder über Bess‘ Stimme Gedanken gemacht. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie auch ein Tagebuch geschrieben haben musste, aber wo war es? Letztes Jahr habe ich schließlich einen Abschnitt gelesen, der meine Frage beantwortete: Pepys gibt zu, wie er in einem Wutanfall ihre Tagebücher fand: "Ich habe sie alle verbrannt." (Er beschreibt auch genüsslich und detailliert, wie ihm, während er tobt und wütet, die Hose um die Knöchel hängt!) Tanz war eine Möglichkeit, Bess zu Worte kommen zu lassen, ohne ihre Tagebücher gelesen zu haben. Ich bin davon ausgegangen, dass sie ein sehr bewegtes Innenleben hatte, da sie solch ein verstecktes Leben führte. Daher habe ich sie als Figur mit Schattenseiten und Innerlichkeit choreografiert. 

AL: Beschreiben Sie einen typischen Probenprozess bei Big Dance Theater, wenn es so etwas gibt.

ABP: Ich bin über den Tanz zum Theater gekommen, das hat meine Arbeitsweise geprägt. Die meisten Menschen sehen Theater primär als etwas Geschriebenes an. Ich habe mich dem Theater immer als etwas genähert, das konstruiert und entwickelt wird, etwas, das durch Bewegung und Formen wächst. Viele Theaterproben fangen damit an, dass alle an einem Tisch sitzen und den Text lesen. Bei Big Dance beginnt der Arbeitsprozess mit dem Tanzen, dabei wird recherchiert, Material wird von den Performer*innen und beteiligten Künstler*innen entwickelt, experimentiert, verfeinert, nuanciert. In unseren Proben geht es oft erst darum, durch Formen Bewegung zu schaffen. Man könnte es mit folgendem Bild vergleichen: Ich entwickle ein Rezept und die Tänzer*innen schaffen den Prototyp von einem Stück Kuchen, dann probiere ich ihn und verändere die Gewürze, der wiederum von ihnen verfeinert wird, und so geht es hin und her.

AL: Wie hat Ihre Arbeit außerhalb der Kompanie Ihre Arbeit mit der Kompanie beeinflusst? Und umgekehrt? Welche Schriftsteller*innen haben sie geprägt? Wer sind ihre Helden aus der Kunst? Was war Ihre prägendste Erfahrung als Zuschauerin?

ABP: Als ich 1984 zum ersten Mal in der Brooklyn Academy of Music (BAM) war, sah ich "Café Müller” von Pina Bausch. Da ich Teil des prosaischen, strukturellen und virtuos-alltäglichen Bewegungsverständnis der frühen Judson Church als auch der 2. Generation der Judsons war, beeindruckte mich, wie Bausch eine Beziehung zwischen Tanz und Kostüm, Sexualität, Beziehungen, Szenario und Charakter schaffte. Es war eine sehr europäische Herangehensweise an Tanz, die eine ganz andere Abstammung hatte als die damalige Downtown-Tanzszene oder die Modernisten, die ich beide von vornherein ablehnte. Ich habe danach kontinuierlich Arbeiten von ihr in der BAM gesehen. Als ich das letzte Mal da war, sah ich das erste Pina Bausch Stück nach ihrem Tod, und habe etwas Neues über die Mechanismen ihrer Arbeit gelernt. Ich habe eine merkwürdige Abwesenheit in dem Theater und der Arbeit selbst verspürt. Beim Zusehen ist mir bewusst geworden, dass die Tänzer*innen all diese Jahre FÜR Pina und für sie allein tanzten. Das Choreografieren ist ein sehr persönlicher Sport. Und verderblicher als Obst.

Adriana Leshko, Senior Publicity Manager at BAM. © 2017, Brooklyn Academy of Music, Inc. All rights reserved. Ausschnitt aus einem Interview, das im September 2017 in BAMbill veröffentlicht wurde. © 2017, Brooklyn Academy of Music, Inc.

Übersetzt aus dem Englischen von Anna-Katharina Johannsen. 

Big Dance Theater | 17c

25.+26.8., 19:00 | Deutsches Theater Berlin
Deutschlandpremiere 

Paul Lazar | Cage Shuffle

25.+26.8., 21:00 | Deutsches Theater Berlin
Deutschlandpremiere | Eintritt frei