Tanzkritik

Zweimal war in den vergangenen 30 Jahren die Tanzkritik Thema bei “Tanz im August”. Sich über die Kritik und Kritiker*innen aufzuregen, sie als ahnungslose Phrasendrescher*innen zu disqualifizieren, ist nicht neu. Genauso wenig wie das Leiden der Kritiker*innen an ihrer Arbeit. Theodor Fontane, der für die in Berlin erscheinende “Vossische Zeitung” in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts ausführliche Theaterberichte verfasst hat, beklagte das mühselige Geschäft:

“Da setzt man sich hin und hat in drei Stunden eine ellenlange Kritik zu schreiben über eine, wie ich Ihnen nicht erst zu sagen brauche, sehr schwierige Materie. Das Mädchen, eingemummelt, steht schon hinter einem, mit einem Markstück in der Hand, um sich sofort auf eine Droschke erster Klasse stürzen zu können. Alles ist in Hast, Angst, Aufregung, und noch immer sitzt der unglückliche alte Mann an seinem Schreibtisch und fegt über die Seiten hin und ist noch immer nicht fertig.” 
(Petra Kohse: “Auch im Lob angreifbar”, nachtkritik.de, Jan. 2009)

So ist das bis heute. Das Gefühl der Unvollkommenheit ist ein ständiger Begleiter der Kritiker*innen. “Die Frage nach der Beschreibbarkeit von Bewegung und Tanz” wurde 1989 zum Thema in der TanzWerkstatt gemacht. 

In seinem Referat ging der Tanzpublizist Norbert Servos mit seinen Kollegen hart ins Gericht:

“Einige zornige Gründe gegen die herrschende Tanzkritik

So etwas macht man nicht.
Skepsis, Irritation, Ablehnung waren die ersten Reaktionen bei Freund und Feind, als ich vor sechs Jahren beschloß, es nicht beim Schreiben allein zu belassen, sondern die Bilder, die mir in Kopf und Körper umgehen, auch in Fleisch und Blut Gestalt annehmen zu lassen. Doch so etwas macht man nicht, jedenfalls nicht hierzulande. Ich setzte mich einmal mehr zwischen alle Stühle und bis heute hört die schreibende Zunft der Kollegen nicht auf, sich zu wundern. Von wohlmeinender Zurückhaltung bis zur offenen Attacke werden nach wie vor alle Mittel der Ausgrenzung erprobt.”

Aus: "Zur Beschreibbarkeit des Tanzes. Tanz in den Massenmedien” Symposium, August 1989, TanzWerkstatt Berlin.

Er kritisierte das “Lagerdenken” heftig und plädierte für eine “Tanz-Poetik”, wünschte sich, dass es endlich darum ginge, “die kritische Attitude, die möglichst imposant die eigene Unbestechlichkeit und Souveränität inszenieren soll, gegen Offenheit, Wachheit und Bereitschaft zu Entdeckungen” einzutauschen. 

Die anschließende Diskussion unter den Symposiumsteilnehmer*innen war kontrovers:

Ausschnitte "Diskussion zu Norbert Servos”. Aus: "Zur Beschreibbarkeit des Tanzes. Tanz in den Massenmedien”, Symposium August 1989, TanzWerkstatt Berlin. J.O. = Johannes Odenthal; M.G. = Malve Gradinger; C.H. = Claudia Henne

Johannes Odenthal widmete sich dem Thema in seiner Zeitschrift tanz aktuell noch einmal:

Sechs Jahre später wurde das Thema “Tanzkritik” während der TanzWerkstatt Berlin erneut aufgegriffen, aber dieses Mal als Workshop:

Zur Einstimmung der Werkstattteilnehmer*innen wurde ein bunter Strauß an historischen Texten ausgegeben:

Der Tänzer Henn Haas, der 1945 in Weimar das Theater des Tanzes gründete, das fünf Jahre später wieder geschlossen wurde, forderte in der Zeitschrift “Theater der Zeit” 1949 als erste Voraussetzung für die Tanzkritik die “Klarheit der Sprache und der Ausdrucks- und Urteilsformulierung. Klar muß das Gesagte sein und beiden Seiten verständlich. Wir Tänzer müssen uns verstanden fühlen und der Leser muß, was er liest, ohne viel Voraussetzungen verstehen können.” Auf vier Säulen sollte die Kritik aufbauen: “auf eigener Erfahrung, erworbener Kenntnis, entgegengebrachter Achtung und auf ursprünglicher, aus innerer Wesensverwandtschaft, aus Einfühlungsvermögen und Nähe geborener Liebe zu unserer Tanzkunst.” 

Über die Position der Tanzkritik hatte der britische Ballettkritiker A.V. Coton eine klare Meinung, die er am 22. Februar 1950 in der Musik Sektion von The Critics’ Circle in London, vorstellte:

“It is, I am sure, unnecessary to mention that our greatest asset is our acceptance of the idea that there should always be a state of ‘cold war’ between artists and critics; for private friendships can undermine the very qualities which make our critisicm a worthwhile activity for each one of us...as I said before, it is our business to understand them even when they don’t understand themselves.” 

Wilfried Hofmann berichtete in “Das Tanzarchiv”, Heft Nr. 7 im Dezember 1963 über eine Umfrage, die er unter 194 Tänzer*innen in ganz Deutschland durchgeführt hatte. Er war erstaunt darüber, wie viele Tänzer*innen Tanzkritiken lesen und wie viele unzufrieden waren, mit dem, was sie lasen. 

Sein Fazit:

“Die Presse muß endlich einsehen, dass ein Musikkritiker an sich keine größere Vorbildung zur Beurteilung von Tanz mitbringt als ein Gymnastiklehrer oder ein Architekt. Sie muß daher versuchen, auf freier Basis sich eigene Tanzkritiker heranzuziehen. Diesen muß erlaubt sein, zweite Besetzungen zu besprechen; denn nur am Vergleich können wir lernen. Auch muß die Presse hinreichenden Raum für Tanzkritiken einräumen, weil es ungemein schwer ist, Substanzielles an hilfreich Kritischem zu sagen, ohne das Gesamturteil über eine Vorstellung durch mangelnde ‘Balance’ zu gefährden. Grundvoraussetzung all dessen ist schließlich, dass sich unsere Presse entschließt, Tanzkritiken in einer Sprache zuzulassen, welche diejenige der Kinderseite etwas übersteigt.”

Selbst an der Stange stehen, ein pas-de-deux-Training mitmachen, das deutsche und internationale Ballettgeschehen verfolgen – das sollte schon sein, so Hofmann. 

Zwischen klaren Worten, kontroversen Perspektiven, Selbsterfahrung an der Stange und den Praxistests in den Vorstellungen von Lucinda Childs, Meg Stuart und Susanne Linke/Urs Dietrich bewegten sich die Teilnehmer*innen und schrieben erste Kritiken. Am 11. und 22. August 1995 erschienen die beiden Ausgaben der Festivalzeitung, die in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift “ballett international/tanz aktuell” entstanden waren.

“Begleiterscheinung” - im Rahmen des Workshops “Tanzkritik” enstandene Festivalzeitungen, Tanz im August 1995

Eine erweiterte, digitale Spielart der Tanzkritik, war der 2012 erstmals beim “Tanz im August” angebotene Blog:

“Zum ersten Mal wird das Festival von einem Blog begleitet. Unter der Adresse tanzimaugust-blog.de begleiten vier junge KulturjournalistInnen täglich das Programm – als Festival-Medium nach außen und innen, als Knotenpunkt in den Netzwerken. Alle Genres sind erwünscht: Rezensionen der eingeladenen Produktionen, Interviews mit Protagonisten, Themenstücke und Essays, Festivalsplitter und individuelle Erkundungen. Betreut werden die AutorInnen von erfahrenen internationalen Kulturjournalisten, die als Mentoren nicht nur die redaktionelle Arbeit begleiten, sondern auch die unterschiedlichen Formen und Funktionen des Tanzjournalismus thematisieren. Der Blog entsteht inmitten des Festivalbetriebs, in Redaktionsräumen, die in unmittelbarer Nähe zu den Spielorten liegen. Das Projekt findet statt in Kooperation mit dem Berliner Tagesspiegel und der Fachzeitschrift tanz.”

Seit 2013 findet sich der Blog als Rubrik auf der Website des Festivals “Tanz im August”.

Mit Virve Sutinen, die sich 2014 mit ihrer ersten Festivalausgabe vorstellte, erschien das “Magazin im August”: “Born out of curiosity and of love for both dance and writing, it offers interviews and features to introduce the exciting artistis coming to Berlin in August. In fact, the magazine is inspired by artists and their thoughts – from all over the world.” Das vielseitige, ansprechend aufgemachte Magazin changiert zwischen Programmheft und Tanzzeitschrift – ein Spielfeld für Tanzjournalist*innen jenseits der aktuellen Berichterstattung.

Die Tanzkritik, die Kritiker*innen und der Kampf ums tägliche Überleben bleiben ein Dauerthema bei jeder Ausgabe von “Tanz im August” – und sei es nach der Vorstellung beim Bier im WAU.