Berliner Tanzszene

Als im Juni 1988 die TanzWerkstatt Berlin als Newcomer auf der Berliner Stadtbühne auftauchte, hatte die Tanzfabrik in der Möckernstrasse schon zehn Jahr auf dem Buckel, die von Leanore Ickstadt, Joanne Pateas und Irene Sieben gegründete TanzTangente im Steglitzer Kreisel immerhin sieben Jahre und die Gastspielreihe Pantomime – Musik – Tanz – Theater der Akademie der Künste präsentierte sowieso schon seit 1976 parallel zum Berliner Theatertreffen Tanz. Und nicht zu vergessen, die Berliner Festwochen, die große Kompanien nach Berlin holten. Es kann also keine Rede davon sein, dass die Tanzmoderne, der zeitgenössische Tanz etwas vollkommen Neues für das West-Berliner Publikum war.

Die TanzWerkstatt mit ihrem kompakten Programm, das jenseits von Aufführungen auch noch Technikklassen, Workshops, Gespräche, Performances, Projekte, und, und anbot – das war neu. Junge, unbekannte Gruppen aus Europa zeigten ihre neuesten ästhetischen Experimente – im wahrsten Sinne des Wortes eine TanzWerkstatt.

Nach E 88 und noch bevor der “Tanz im August” (das neue Label) Mitte August 1989 startete, schien es so, als hätten die Anstrengungen im Juni 1988 eine Tür geöffnet.

Am 16. März 1989 übernahm die erste rot-grüne Koalition in West-Berlin, der sogenannte Momper-Senat, die Regierungsgeschäfte und allein die acht Frauen, die Momper als Senatorinnen benannte, versprachen einen neuen Politikstil – auch in der Kultur. Kultursenatorin Anke Martiny wollte die ‘Freie Szene’ besser fördern und hatte in der 1988 gegründeten Tanzinitiative Berlin eine politisch engagierte Ansprechpartnerin.

Auf die Lebendigkeit der Berliner Tanzszene verweist auch das Impressum der ersten Ausgabe von “Tanz im August“ von 1989:

Künstlerische Leitung: Nele Hertling
Koordination und Organisation: Hartmut Faustmann, Marion Ziemann
Projektleiter Tanzwerkstatt:
Zeitgenössischer Tanz: Ulrike Becker, Jacalyn Carley, Dieter Heitkamp, André Thériault
Early Dance: Klaus Abromeit
Symposium: Johannes Odenthal

Manuskript Berlin-Report in ballett international “T 89 - ein schöner Traum” von Claudia Henne, 7.7.1989

Ob die Tatsache, dass sich die von Rolf Garske, Pionier der Tanzzeitschriften, herausgegebene Zeitschrift “tanz international” in seiner Juli/August Ausgabe 1990 ausführlich der ‘Tanzszene Berlin’ widmet, auf die besondere Bedeutung der Berliner*innen in der bundesdeutschen Tanzlandschaft hindeutet, ist heute nicht mit Bestimmtheit zu sagen. 

Herrmann-Josef Fosel kritisierte als guter Kenner der Szene die Berliner Kulturpolitik: “Ohne Geld und richtige Spielstätte befinden sich die meisten Truppen in einem Zwischenraum (zwischen Geldverdienen und Tanzen), der eine kontinuierliche Arbeit nicht ermöglicht.” (tanz international 7/8 ‚90, S. 23). Auf die Ankündigung der Kultursenatorin Anke Martiny, ein Konzept vorzulegen, reagierte die Szene misstrauisch und vertraute lieber auf eigene Ideen:

  1. Bereitstellung zusätzlicher Mittel für eine Basisförderung der drei Kompanien Dance Berlin, Tanzkompanie Regina Baumgart, Tanztheater Skoronel;
  2. Planung und Realisierung eines Berliner Tanzhauses;
  3. Etablierung der Tanzwerkstatt Berlin mit einem festen Haushaltstitel.

Johannes Odenthal plädierte in seiner Zeitschrift tanz aktuell 7/8-90 für “eine Tanzkunst der Gegenwart”:

Berlins Kultursenatorin Anke Martiny versprach in einer Pressemitteilung am 23. November 1990 – die Wiedervereinigung war knapp zwei Monate alt – Stellen und Geld:

Das Informationsblatt der Tanz Initiative Berlin e.V. offenbart ein knappes Jahr später, dass es bei Plänen geblieben war:

Die Berliner Tanzszene kämpfte weiter und verschaffte sich immer mehr Platz im Theater am Halleschen Ufer (heute HAU2), das von der 1979 gegründeten Freien Theatergruppe, der Theatermanufaktur, bespielt wurde:

Zur Verschärfung der Situation trug die Wende bei, denn die Tänzer*innen und Choreograf*innen aus der DDR, die beiden großen Ballettkompanien an der Staatsoper und der Komischen Oper in Ost-Berlin, alle wollten und sollten versorgt werden. Die Unkenntnis und die Arroganz vieler Westkolleg*innen enttäuschten und verbitterten nicht wenige. Der Tanz hatte – und das war nicht zu übersehen – in den 40 Jahren der Teilung eine Ost- und eine Westgeschichte entwickelt und das machte sich besonders in Berlin bemerkbar. Selbst Jo Fabian, der 1993 mit “Whisky & Flags” gefeiert wurde, fühlte sich nicht ernst genommen:

“Nach ‘89 hat sich kein Mensch mehr dafür interessiert, was ich in den DDR-Jahren gemacht habe. Und das war nichts anderes, als was als erstes sichtbar geworden ist. So müssen Leute meiner Generation wieder neu um ihr Eigenes kämpfen, weil es nicht selbstverständlich angenommen wird, weil teilweise gar nicht geglaubt wird (...) dass in so einem Gebilde DDR etwas entsteht, was der Westen für sich gepachtet hat.”
(Ausstellungskatalog “Krokodil im Schwanensee. Tanz in Deutschland seit 1945“, S. 265, 266)

Es gab immer wieder neue Ansätze, neue Programme, neue Akteur*innen, neue Orte:

  • 1988 wird die landeseigene Hebbel-Theater Berlin Gesellschaft mbH mit Nele Hertling als Geschäftsführerin und künstlerischer Leiterin des Hauses gegründet. 
  • 1991 wird aus dem ehemaligen Haus der Jungen Talente in der Klosterstraße das Podewil, das Zuhause für die neu gegründete landeseigene Berliner Kulturveranstaltungs GmbH (BKV). Hier werden vom Senat geförderte Projekte organisiert und verwaltet, z.B. die TanzWerkstatt und Spielstätten, z.B. das Theater am Halleschen Ufer.
  • 1992 wird das Theater am Halleschen Ufer als “zentrale Spielstätte der freien Gruppen Berlins” eröffnet und Hartmut Henne übernimmt die künstlerische Leitung. Das Haus wird eine wichtige Bühne für den zeitgenössischen Tanz.
  • Wibke Janssen und Kirsten Seeligmüller suchen nach einem Probenraum für ihr Tanztheater und mieten 1994 eine 300qm Fabriketage in der Kastanienallee 79 und entwickeln peu à peu das DOCK 11;
  • Am 25. September 1994 treffen sich auf Einladung der Abteilung Darstellende Kunst in der Akademie der Künste Berliner Kulturinstitutionen unter dem Motto ‘Notruf der Berliner Kultur‘. Spontan gründet sich ein Komitee, das als Rat für die Künste seither regelmäßig tagt.
  • 1995 gründen Sasha Waltz, Jochen Sandig, Zebu Kluth, Dirk Cieslak u.a. die Sophiensæle in Mitte, die im Herbst 1996 mit der UA “Allee der Kosmonauten” von Sasha Waltz als Produktions und Spielstätte für ‘Freies Theater/Tanz’ eröffnet werden. Im selben Jahr zieht die Tänzerin und Choreographin Constanza Macras nach Berlin.
  • 1996 (2001) wird Zebu Kluth zum Künstlerischen Leiter des Theater am Halleschen Ufer berufen, das er für zeitgenössischen Tanz, Performance und das postdramatische Theater öffnet;
  • 1999 verständigen sich der Bund und das Land Berlin im Rahmen des Hauptstadtkulturvertrages auf den Hauptstadtkulturfonds, “aus dem bedeutsame kulturelle und künstlerische Einzelprojekte und Veranstaltungen in der Bundeshauptstadt Berlin gefördert werden.”
  • 1999 kommt es zu einer Fusion, die alte Strukturen ernsthaft in Frage stellt: Thomas Ostermeier (DTBaracke) und Sasha Waltz (Sophiensæle) übernehmen gemeinsam mit Jens Hillje und Jochen Sandig die Schaubühne am Lehniner Platz. Tanz und Theater machen gemeinsame Sache. “Körper”, das Eröffnungsstück von Sasha Waltz, wird ein fulminanter Erfolg. Im Herbst 2004 geben Sasha Waltz und Jochen Sandig ihren Rückzug aus der künstlerischen Leitung der Schaubühne bekannt.
  • Die griechische Choreografin Toula Limnaios und der Komponist Ralf R. Ollertz gründen 2000 in einer ehemaligen Turnhalle im Prenzlauer Berg ein Probenhaus, das seit 2003 als privates Theater Halle Tanzbühne Berlin zeitgenössischen Tanz zeigt;

Die Berliner Tanzszene bei “Tanz im August” - Ausschnitte der Programmhefte 2001-2007.

  • Im Jahr 2000 gründet Zebu Kluth gemeinsam mit dem Tanzdramaturgen Dirk Schlüter und den Leiterinnen der Tanzfabrik Claudia Feest und EvaMaria Hoerster die Tanznacht Berlin. Im Dezember nimmt der Zeitgenössische Tanz Berlin e.V. (ZTB) seine Arbeit auf, vertritt die Interessen von Choreograf*innen, Tänzer*innen, Kompanien und Tanzinstitutionen in Berlin;
  • Im Januar 2001 gründet sich die Initiative Zeitgenössischer Tanz Berlin unter Vorsitz von Barbara Friedrich
  • 2003 übernimmt Matthias Lilienthal die HebbelTheater Berlin GmbH und vereint das Hebbel-Theater, das Theater am Halleschen Ufer und das Theater am Ufer zu seinem Theaterkombinat HAU und setzt neue programmatische Akzente.
  • 2003 gründet Constanza Macras gemeinsam mit Carmen Mehnert das interdiziplinäre Ensemble DORKYPARK.
  • Nach heftigen Verteilungskämpfen zwischen den drei Ballettkompanien nach der Wende und dem gescheiterten Versuch, alle in ein Berlin Ballett zu integrieren, wird 2004 das Staatsballett Berlin gegründet;
  • Eine Residenz an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (2005-2010) bindet die Choreografin Meg Stuart fester in die Berliner Tanzszene ein.
  • 2005 ruft die Tänzerin und Choreografin Livia Patrizi die TanzZeit ins Leben und bringt Tanz und Choreograf*innen in Berliner Schulen
  • Im Herbst 2006 eröffnen Jochen Sandig und Folkert Uhde das Radialsystem V als offenen Raum für den Dialog der Künste. Das umgebaute Pumpwerk wir die neue Heimat von Sasha Waltz & Guests.
  • Das Tanzbüro Berlin wird 2005 als zentrale Institution für die Berliner Tanzszene gegründet;
  • Barbara Friedrich, die seit 1996 die Tanztage im Pfefferberg (heute Tanztage Berlin), ein Forum für junge Tänzer*innen und Choreograf*innen veranstaltete, und unermüdlich für mehr Produktions und Aufführungsorte in Berlin kämpfte, gelingt es 2008 endlich die ehemaligen BVG Werkstätten an der Panke im Wedding für die Uferstudios GmbH anzumieten. 2010 stehen nach dem Umbau 4.200 qm für künstlerische Produktion, Information und Ausbildung zur Verfügung,  eröffnen Studios, ziehen die Tanzfabrik, das Tanzbüro, das Hochschulübergreifende Zentrum Tanz (HZT), das ada Studio ein;
  • Das DOCK 11 erweitert sich 2009 und baut das EDEN***** in Pankow  auf mit fünf Studios;
  • 2012 wird Annemie Vanackere Geschäftsführerin und künstlerische Leiterin der Hebbel-Theater Berlin GmbH und gibt in einer Pressekonferenz am 12.9.2012 bekannt: “Zu diesem Rückenwind, den wir spüren, zählt auch die Entscheidung der Senatskanzlei für Kulturelle Angelegenheiten, die Zukunft von ‘Tanz im August’ zu sichern und die Trägerschaft für dieses traditionsreiche und in dieser Stadt so beliebte Festival vollständig ans HAU zu übertragen.” Ein Blick in das HAU-Programm bestätigt Vanackeres Engagement für den Tanz.
Aufführung von La Ribot - Laughing Hole bei Tanz im August 2017.

Die Zukunft des Festivals steht seitdem auf sicheren Füßen, um den Preis der Schließung der TanzWerkstatt. 2013 zum 25. Jubiläum des Festivals “Tanz im August“ wünschte sich Bettina Masuch, die für diese eine Ausgabe die Leitung übernommen hatte: “die Sonne von Montpellier, den Koproduktionsetat von Impulstanz in Wien und das Bekenntnis des Berliner Senats zum Tanz.” (“Blick zurück – ohne Zorn“ von Eva-Elisabeth Fischer, SZ 20.08.2013).

Im August 2014 präsentierte die Finnin Virve Sutinen, mit allen Wassern der internationalen Tanzszene gewaschen, ihre erste Festivalausgabe als künstlerische Leiterin.

Mit Erfolg kämpft Vanackere für die bessere Förderung des Festivals, kann den Etat im Haushalt 2018/2019 fast verdoppeln. Die Planung kommt dank der vierjährigen Förderzusage aus ihrer Schnappatmung und kann sich noch effizienter als wichtiger Player in der Tanzwelt etablieren. Zwei Forderungen konnte die Berliner Tanzszene bis heute nicht durchsetzen: ein Tanzhaus und einen eigenen Haushaltstitel für das Festival “Tanz im August“.

Die aktuellen Player in der kulturpolitischen Auseinandersetzung mit dem Senat und dem Parlament sind das Tanzbüro Berlin, der Zeitgenössischer Tanz Berlin e.V., das TanzRaumBerlin Netzwerk sowie das LAFT Berlin und laut “tanzraumberlin“ (das Magazin ist mittlerweile ein “must” für alle Tanzbegeisterten) ist die Berliner Tanzszene quicklebendig und doch: 

“Der zeitgenössische Tanz in Berlin hat in den vergangenen 15 Jahren eine große lebendige Szene mit hohem Publikumszuspruch, innovativer Dynamik und internationaler Ausstrahlung entwickelt. Bei rund 300 Choreograf*innen, 3000 Tänzer*innen und ca. 1400 Vorstellungen im Jahr ist der künstlerische Output dieser Sparte überaus wertvoll. Doch nach wie vor bleibt der Tanz in der Förderung weit hinter den anderen Sparten zurück.”

Bis Ende des Jahres hat der mittlerweile konstituierte Runde Tisch Tanz Zeit, Vorschläge für die zukünftige Förderung der Berliner Tanzszene auszuarbeiten. Übrigens hat bis heute niemand nachgezählt, der wievielte Runde Tisch Tanz es ist, der Berliner Politiker*innen (wieder einmal) auf die Sprünge helfen soll. Freiwillige vor!